25. August 2006 - Publik-Forum
Offener Brief an Papst Benedikt XVI.
Vor dem Papstbesuch: Offener Brief an Papst Benedikt XVI. und an die deutschen Bischöfe
1. Immer mehr Menschen wird das Glauben in der Kirche durch das Festhalten an überholten kirchlichen Strukturen erschwert oder gar unmöglich gemacht. Hunderttausende haben schon »Kirchenflucht« begangen, Millionen haben sich in die innere Emigration zurückgezogen. Besonders Frauen finden es zunehmend unerträglich, dass sie durch die patriarchalen kirchlichen Strukturen gehindert werden, ihre Berufungen und ihren Glauben in der Kirche zu leben.
2. Die Zahl der Menschen und Gemeinden wird immer größer, die sich für innerkirchliche Reformen wie die Ordination von Frauen, die Zulassung von verheirateten Männern (»viri probati«) zum Priesteramt, die Aufhebung des Pflichtzölibats für Priester oder die Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zu den Sakramenten einsetzen. Auch die zahlreichen Voten von Räten, Kommissionen, Verbänden, Synoden und Pastoralgesprächen zeigen die Notwendigkeit dieser Reformen immer deutlicher.
3. Bedingt durch den weiter zunehmenden Priestermangel steht die Gemeindepastoral vor umwälzenden Umbrüchen, auf die unsere Kirche nicht vorbereitet ist. Die Hälfte unserer Pfarreien in Deutschland wird in naher Zukunft ohne ordinierte Seelsorger und regelmäßige Eucharistiefeier sein. Die derzeitigen bischöflichen Strukturüberlegungen haben die Gemeinde als Urmodell christlicher Gemeinschaft aus den Augen verloren und kündigen den Abschied von der Ortsgemeinde an. – Auch weltweit ging in dem 26-jährigen Pontifikat von Johannes Paul II. die Zahl der Priester um 4 Prozent zurück, während die Zahl der Katholiken und Katholikinnen weltweit um 40 Prozent anstieg.
4. Die Weltbischofssynode zur Eucharistie 2005 in Rom hat gezeigt, dass die von der Kirchenvolksbewegung seit Jahren thematisierten Reformanliegen keineswegs nur Deutschland betreffen. Bischöfe – vor allem aus Dritte-Welt-Ländern, den USA und den mit Rom unierten orthodoxen Kirchen – haben dieses zur Sprache gebracht.
5. Die aktuelle Finanz- und Vertrauenskrise ist Zeichen einer schweren geistigen und geistlichen Krise. Die drastischen Sparmaßnahmen werden in vielen Bistümern ohne Transparenz und breitere Mitwirkung praktiziert. Der pastorale und soziale Rückbau hat zur Folge, dass sich die Kirche immer mehr von den Menschen entfernt.
6. Die römisch-katholische Kirche erreicht mit ihrer Botschaft nur noch einen schrumpfenden Bruchteil der gesellschaftlichen Milieus, wie in aufrüttelnder Weise die jüngst veröffentlichte Sinus-Studie aufzeigt, die die Einstellungen von Menschen zu Religion und Kirche sowie konkrete Erwartungen an die katholische Kirche untersuchte.
7. Zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, fehlt die Stimme der Kirche in den aktuellen gesellschaftlichen Umverteilungs- und Umstrukturierungsprozessen sowie zu den Folgen der Globalisierung.
8. Die einschneidenden Eingriffe des Vatikans in den letzten Jahren – wie beispielsweise die »Laien-Instruktion«, das Apostolische Schreiben »Ad tuendam fidem« (Zum Schutz des Glaubens) sowie die die Ökumene sehr belastende Erklärung »Dominus Iesus« und die Liturgie-Instruktion »Redemptionis Sacramentum« – haben die Kluft zwischen Kirchenleitung und Kirchenvolk immer mehr vertieft.
9. Besonders gravierend für die katholische Kirche in Deutschland waren und sind die jüngste scharfe Kritik am Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) durch den neuen Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Levada, die Infragestellung der seit der Würzburger Synode bestehenden Gemeinde-, Dekanats- und Diözesanräte und all ihrer Beschlüsse durch die Kleruskongregation sowie die jetzt auf Druck von Rom erfolgte Ausgrenzung von Haupt- und Ehrenamtlichen im kirchlichen Dienst, die sich in der Schwangerschaftskonfliktberatung engagieren ...
10. Die bereits 1994 vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken konstatierte Dialogverweigerung gegenüber dem Kirchenvolk hält an. Auch die zahlreichen Dialogversuche seitens der Kirchenvolksbewegung sind von den Bischöfen nur sehr zögerlich oder gar nicht aufgenommen worden. Die Bitte der internationalen Bewegung Wir sind Kirche um Gespräche mit Papst Johannes Paul II. und Papst Benedikt XVI. sind nicht beantwortet worden.
Die römisch-katholische Kirche steht in Deutschland, in Europa und weltweit vor dramatischen Veränderungen und Herausforderungen, die nur von Kirchenvolk und Bischöfen gemeinsam bewältigt werden können. Wenn Sie wahre Hirten der Kirche, solidarisch mit deren Nöten und Hoffnungen, sein wollen, sollten Sie – als Nachfolger der Apostel – im Sinne des Apostels Paulus »nicht als Herr über den Glauben, sondern als Diener unserer Freude« handeln. Deshalb appellieren wir an Sie:
Nutzen Sie den Mangel an Priestern als Chance für ein neues Bewusstsein der Mit- und Selbstverantwortung in den Gemeinden!
Binden Sie die so genannten Laien in die Weitergabe des Glaubens und in die Leitung der Gemeinden kompetent ein!
Sehen Sie das Drängen der Frauen als Zeichen der Identifizierung mit der Kirche! Gerade die Visionen von Frauen für ein erneuertes Amt bieten Chancen für eine zukunftsweisende Pastoral!
Räumen Sie den Jugendlichen und jungen Erwachsenen Gestaltungsmöglichkeiten und Eigenverantwortung ein, da nur so eine Beheimatung in der Kirche gelingen kann!
Erkennen Sie das Engagement gerade auch kritischer Katholikinnen und Katholiken als klares Zeichen der Liebe zur Kirche und als Alternative zu tatsächlicher oder innerer Emigration!
Ergreifen Sie die besondere Verantwortung für die Ökumene mit den Kirchen der Reformation! Geben Sie ein klares Bekenntnis für das Verbindende im Glauben sowie zum Zweiten Ökumenischen Kirchentag im Jahr 2010 ab!
Zeigen Sie in christlicher Zuversicht Mut! Wir brauchen eine offene, den Menschen zugewandte und geschwisterliche Kirche. Seien Sie zum offenen und ernsthaften Dialog mit dem Kirchenvolk bereit.
Die Kirchenvolksbewegung hat diesen Brief an Papst Benedikt und die Bischöfe verfasst. Sie ging hervor aus dem Kirchenvolksbegehren. Es sammelte im Herbst 1995 die Unterschriften von 1 845 141 Menschen, darunter 1 483 340 Katholiken, für Kirchenreformen.
Kontakt: Wir sind Kirche, Christian Weisner, Tel. 08131/260250, www.wir-sind-kirche.de
Zuletzt geändert am 24.08.2006