28.2.2011 - Süddeutsche Zeitung
Die Kirche bröckelt
Von Christian Mayer und Stefan Simon München – Missbrauch, Prügel, Untreue: Die Skandale des vergangenen Jahres haben der katholischen Kirche schwerer geschadet, als bisher bekannt war. Alleine das Erzbistum München und Freising registrierte 2010 mehr als 23 200 Austritte – gegenüber dem Vorjahr ein sprunghafter Anstieg um 30 Prozent. In diesen Zahlen manifestiert sich, was Alois Glück, der Vorsitzende des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, unlängst in Bad Tölz feststellte: Die Kirche habe einen ungeheuren Vertrauensverlust erlitten, sagte er auf einer Veranstaltung des Katholischen Kreisbildungswerks.
Beinahe jeder dritte Kirchenaustritt in Bayern erfolgte im Bereich der Erzdiözese München und Freising, was jedoch vor allem an deren Größe liegt. Hauptursache für die dramatisch gestiegene Zahl derer, die sich von der Kirche abwenden, sei zwar der Missbrauchsskandal, heißt es im Erzbischöflichen Ordinariat. Eine monokausale Erklärung sei aber zu kurz gegriffen: „Meist geht einem Kirchenaustritt ein Prozess der Entfremdung voraus, so eine Entscheidung wird länger erwogen“, sagte ein Bistumssprecher der Süddeutschen Zeitung. Immerhin sei der Trend zum Austritt nicht mehr ganz so drastisch: Seit Spätherbst 2010 pendeln sich die Zahlen wieder auf dem Niveau vor dem Skandal ein. Erfreulich sei immerhin, dass die Kirche im vergangenen Jahr auch 475 Eintritte von Erwachsenen verzeichnen konnte.
Die Austrittszahlen hat die Nachrichtenagentur dapd recherchiert. Bei einer Umfrage kamen allerdings nur sechs der sieben bayerischen Bistümer der Bitte um eine Auskunft nach. Diesen Angaben zufolge kehrten 53 663 Christen der katholischen Kirche vergangenes Jahr den Rücken – ein Anstieg um satte 48,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Das Bistum Regensburg verweigerte die Auskunft; die Auswertung für 2010 liege noch nicht vollständig vor, hieß es. Schätzt man die Regensburger Zahlen allerdings anhand der durchschnittlichen Entwicklung in den übrigen Bistümern, dann dürfte es bayernweit um die 65 000 Austritte gegeben haben – das wäre knapp ein Prozent der rund sieben Millionen Katholiken im Freistaat.
Damit sei die Kirche „noch glimpflich davongekommen“, findet Christian Weisner von der katholischen Laienorganisation „Wir sind Kirche“. Angesichts dessen, was 2010 alles an Verfehlungen bekannt geworden sei, habe man mit einem noch größeren Mitgliederschwund rechnen müssen. Weisner bekräftigt die These des Münchner Ordinariats, dass einer Abkehr von der Kirche häufig ein Prozess der Entfremdung vorausgehe. Er macht dafür aber auch die Kirchenführung, namentlich Kardinal Reinhard Marx, verantwortlich. Gemeindezusammenlegungen und andere Reformen, alle von oben verordnet und „im Eiltempo“ durchgezogen, hätten „viel Unmut in den Gemeinden“ ausgelöst. Es gebe ein großes „Bewusstsein, wie wichtig Kirche ist“, viele Ehrenamtliche fühlten sich jedoch nicht ausreichend respektiert. Weisner fürchtet, der „harte Stil“ der Kirchenführung könne den bereits beobachteten Entfremdungsprozess noch beschleunigen. Er verlangt von Kardinal Marx deshalb „mehr Respekt vor den Gläubigen“.
Den kräftigsten Anstieg der Austritte gab es 2010 in Augsburg. Nach dem Skandal um den inzwischen abgedankten Bischof Walter Mixa traten 12 065 Mitglieder aus – knapp 73 Prozent mehr als im Vorjahr. Zum Vergleich: Bamberg verlor 6323 Gläubige (plus 58,4 Prozent), Eichstätt 3255 (plus 68,5 Prozent), Passau 2456 (plus 64,2 Prozent) und in Würzburg wandten sich 6310 Katholiken von ihrer Kirche ab (plus 66,6 Prozent).
Bei der evangelischen Kirche mit ihren 2,6 Millionen Mitgliedern in Bayern blieb die Zahl der Austritte mit 20 000 stabil. Die Zahl der Eintritte stieg von 3500 auf mehr als 5400. Ob es Zusammenhänge mit den Austritten bei den Katholiken gibt, konnte ein Sprecher der Landeskirche nicht sagen. Er betonte aber, man wolle nicht Nutznießer der Krise bei der katholischen Kirche sein. (Kommentar)
Zuletzt geändert am 27.07.2011