10. September 2006 -Die Welt
Joseph Ratzinger als Heilsbringer und Showstar
Von Heimo Schwilk
Wenn der Papst, geschmückt mit einer Designer-Sonnenbrille Marke "Serengeti", in den kommenden Tagen vom Papamobil herab seine bayerischen Landsleute grüßen wird, werden ihm Benedetto-Sprechchöre entgegenschallen. Eine Begeisterung, die den früheren Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre bei seinen Auftritten nun schon seit eineinhalb Jahren begleitet. Ein erstaunlicher Wandel hat sich vollzogen, die den Mann aus jener umstrittenen vatikanischen Behörde, in der einst die Heilige Inquisition residierte, gleichsam über Nacht zum strahlenden Heilsbringer machte.
Joseph Ratzingers Ruf als Ausnahmetheologe, seine sanft-freundliche Lockerheit und zuletzt sein souveräner Auftritt beim ersten TV-Interview in der Geschichte des Papsttums haben offenbar eine Beißhemmung ausgelöst: Weder der notorische Vatikan-Hasser Eugen Drewermann noch Ratzingers theologischer Gegenspieler Hans Küng wettern wie früher gegen Benedikts Dogmatismus. Auch die papstkritische Kirchenvolksbewegung oder das hart am Zeitgeist segelnde Zentralkomitee der deutschen Katholiken hadern kaum mehr mit einem Papst, der noch vor nicht allzu langer Zeit für alles herhalten musste, was im Katholizismus als reaktionär gilt.
Angesichts dieser überraschenden Wende stellt sich die Frage, ob auch der deutsche Katholizismus, die Institution Kirche, von diesem Sympathiebonus profitieren kann. Denn diese verliert seit Jahren massiv an Mitgliedern, zwischen 1991 und 2004 verließen in Deutschland annähernd zwei Millionen Katholiken ihre Kirche, aber nur 155 500 kamen dazu. Die Folgen: Das Steueraufkommen sinkt, Kirchen müssen geschlossen, Personal muss abgebaut werden.
Bei der Deutschen Bischofskonferenz sieht man die Lage nüchtern: Der Mitgliederschwund sei zwar gebremst, aber längst noch nicht gestoppt, sagt Pressesprecherin Martina Höhns. Obwohl sich die Austrittswelle in den letzten beiden Jahren abgemildert habe, sei der Verlust immer noch beängstigend: Statt rund 120 000 Kirchenmitgliedern 2003 sind ein Jahr später nur noch 97 000 ausgetreten. Bei den Wiedereintritten liege die Zahl aktuell bei 8000 - ein positives Signal, mehr nicht.
In den neuen Bundesländern stellt sich die Lage noch weitaus dramatischer dar: 2004 zählten die evangelische und katholische Kirche in Ostdeutschland und Berlin zusammen nur noch 3,7 Millionen Mitglieder. In einer Stadt wie Magdeburg sind gerade noch acht Prozent der Menschen als Christen registriert. Die Jugendweihe als Relikt der kommunistischen DDR-Gesellschaft beginnt Konfirmation und Firmung zu verdrängen. In Berlin und Brandenburg wird der Religionsunterricht durch das Fach Ethik ersetzt.
Auch für Prälat Karl Jüsten vom Kommissariat der Deutschen Bischöfe in Berlin ist "kein Hype" erkennbar, was echte christliche Religiosität betrifft. Gerade junge Leute, die beim Weltjugendtag in Köln ihren Glauben so fröhlich präsentierten, hätten eine ähnliche Begeisterung auch bei der Fußball-WM in Deutschland gezeigt. Das beweise, dass der Auftritt des Papstes für viele nur ein "Event" sei, eine Show, abgesehen von den glaubensüberzeugten Jugendbewegungen wie "Legionäre Christi", "Jugend 2000" oder "Redemptoris mater". Der langfristige Effekt der neuen Rom-Begeisterung sei eher diffus. So lasse der eklatante Priestermangel keine positive Trendumkehr erkennen, auch wenn es heute sehr viel mehr "Spätberufene" gebe als früher. Der Berliner Prälat sieht deshalb in der neuen Glaubensoffenheit weniger eine Rückkehr zu gelebter Volksfrömmigkeit als ein intellektuelles Phänomen, das vor allem auch mit der Person des deutschen Papstes zusammenhänge.
Tatsächlich übt die dogmatische Klarheit von Papst Benedikt, wie sie sich in seiner viel gelobten ersten Enzyklika "Deus caritas est" (Gott ist Liebe) erneut erwiesen hat, eine wachsende Faszination auch bei kirchenkritischen Eliten aus. Das mache es der Kirche leichter als früher, mit der Politik ins Gespräch zu kommen, sagt Jüsten. Hier sei die Kirche geradezu "aufgewacht", "strategischer" geworden. Ihrer Präsenz in Fragen der Bioethik sei es zu verdanken, dass die deutsche Gesetzeslage die restriktivste in ganz Europa ist. "Hier und auch bei der Friedensethik profitieren wir erkennbar von der neuen religiösen Sensibilität."
Der Tübinger Theologe Hans Küng, den Papst Benedikt durch die Gewährung einer Audienz kurz nach seiner Wahl taktisch geschickt umarmte und damit als Kritiker ausschaltete, drückt sich ebenfalls sehr behutsam aus, wenn er vom "Benedikt-Effekt" spricht: "Ich glaube, hier handelt es sich um ein Vater-Bedürfnis, das ja in unserer Gesellschaft lange nicht gestillt worden ist." Dennoch könne er im Weltjugendtag nur ein "Fest" erkennen, das nach der Abreise der jungen Leute nicht viel Spuren hinterlasse. Der Bruch zwischen den Generationen sei viel zu groß, vor allem was die Sexualmoral betreffe. "Ich würde mir wünschen, dass der Papst endlich konstruktive Weisungen erteilt und seine Anhänger nicht nur frenetisch klatschen."
Die Mahnung Küngs darf auch als Hinweis verstanden werden, dass es mit der weich zeichnenden, jede anstößige Positionierung vermeidenden Gremienpolitik der deutschen Bischofskonferenz in naher Zukunft vorbei sein könnte. Denn der Generationswechsel unter den Bischöfen hat Männer wie den Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller ins Amt gebracht, die sich offen mit den als zu liberal empfundenen Laiengremien anlegen - unter freundlicher Duldung Roms. Und bei seiner Wiederwahl zum Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz vor einem Jahr beeilte sich sogar Kardinal Karl Lehmann, Aushängeschild des liberalen deutschen Katholizismus, ganz im Sinne Papst Benedikts einem "enthemmten Individualismus" und der "Vorherrschaft des Ökonomischen" den Kampf anzusagen.
Es ist der streitbare Regensburger Bischof Müller, der den deutschen Katholizismus am liebsten sofort auf Ratzinger-Linie bringen würde. Für den Gastgeber bei Benedikts längster Etappe der Bayernreise ist die Papst-Begeisterung "kein Strohfeuer". Benedikt werde als "authentisch" empfunden, er erreiche "die Herzen, aber auch den Verstand der jungen Menschen" und fördere ihre Bereitschaft, sich auf den Glauben einzulassen. Dies werde die katholische Kirche in Deutschland nachhaltig verändern.
Ob dieses Einschwenken in die neue Eindeutigkeit die katholische Kirche nach vorne bringt, ist schwer einzuschätzen. Zwar sagen laut Umfragen zwei Drittel der Jugendlichen, es sei modern, an etwas zu glauben, doch nur ein kleiner Teil nimmt die Glaubensgebote ernst oder ist im kirchlichen Leben engagiert.
Keuschheit vor der Ehe, Verzicht auf Kondome und das strikte Verbot der Abtreibung sind eben nicht populär, stoßen sogar viele ab. Angezogen fühlen sich immer mehr Jugendliche allenfalls von der Tatsache, dass die katholische Kirche in einer Welt wachsender Gewalt "als Global Player zu einem Hort der Menschenrechte und Werte" geworden ist, wie der Philosoph Peter Sloterdijk konstatierte. Das - und vor allem die Wahl eines deutschen Papstes - habe den besonders in Deutschland starken "antirömischen Affekt" gemildert, vermutet auch Thomas Brose vom Guardini-Lehrstuhl der Berliner Humboldt-Universität.
Doch die Inhalte ihrer Religiosität basteln die jungen Sinnsucher dann doch lieber selbst, sodass vom wachsenden Bedürfnis nach Glauben am wenigsten das institutionalisierte Christentum profitiert. Dafür boomt der Esoterik-Markt mit seinen Meditationsseminaren, Selbsterfahrungskursen und Körpertherapien. Vielleicht hat Kölns konservativer Erzbischof Joachim Meisner deshalb recht, wenn er von "metaphysischen Exilanten" spricht, die so gar nicht ins Reich der Kirche heimkehren wollen.
Dass sie aber immer öfter nach Rom, Lourdes, Santiago de Compostela, ins Heilige Land und dieser Tage natürlich nach Bayern wallfahren, wie das Bayerische Pilgerbüro stolz vermeldet, könnte ein Hoffnungszeichen sein. Wie die Tatsache, dass der Name des Papstes es hierzulande in knapp zwei Jahren von Platz 50 auf Platz 37 der beliebtesten Vornamen geschafft hat.
Zuletzt geändert am 10.09.2006