8.6.2012 - Publik-Forum
Neue Räume für die Seele
»Kirche für Beginner« und andere Aufbrüche zeigen: Nur wenn die Christen den Menschen wirklich zuhören, gibt es für die Kirche eine Zukunft
Die junge Frau steht breitbeinig auf der Bühne des Audi Max der Universität, beide Hände in die Hüften gestemmt. Ihre Körpersprache sagt: »Her mit den Fragen.« Und: »Ich werde euch schon was erzählen!« Die 32-jährige »Ex-Marathon-Läuferin, Ex-Atheistin und Ex-Novizin einer Ordensgemeinschaft«, wie sie sich selbst bezeichnet, ist im Bistum Hildesheim fest angestellt: als Referentin im Fachbereich »Missionarische Seelsorge«. Sie soll dafür sorgen, dass das Projekt »Kirche für Beginner« im Bistum Hildesheim weitere Fortschritte macht.
Und so erzählt Annette Reus bei der Veranstaltung »Raus aus der Wagenburg« von soul side linden, einer Initiative inmitten des multikulturellen und alternativen Stadtteils Linden in Hannover. Ökofreaks, Studierende, junge, sozial schwache Menschen mit Migrationshintergrund - sie treffen sich in einem Café, dem »Raum für die Seele«. Dort können sie ihre Fragen, Sehnsüchte, Ängste und Vorbehalte offen aussprechen. Alle hatten bislang mit Religion, Christentum und Kirche nichts im Sinn, sind aber inzwischen neugierig geworden. Sie genau sind die Zielgruppe des Projekts »Kirche für Beginner«.
Das Team, zu dem bis vor einem Jahr auch Annette Reus gehörte, bietet Glaubensgespräche (soul talk) an - auch schon mal im Tattoo-Studio oder auf dem Friedhof -, offen gestaltete Nachtgebete mit meditativen Elementen, Filmabende, Kunstinstallationen mit örtlichen Künstlern - alles ausgerichtet an den Erwartungen und Wünschen dieser suchenden Menschen.
Ähnliche Projekte soll Annette Reus, die sich als »Experimentalistin aus Überzeugung« bezeichnet, nun im Bistum aufbauen helfen. »Und Sie haben dafür freie Hand?«, wird die hagere junge Frau etwas skeptisch gefragt: »Ja«, ist ihre Antwort, »sonst würde ich sofort aufhören.« Man glaubt es ihr aufs Wort.
»Kirche für Beginner« stammt aus England. Dort hat die anglikanische Kirche, bedroht von öffentlichem Desinteresse und einem großen Mitgliederschwund, vor Jahren die Bewegung fresh expressions ins Leben gerufen. Es geht dabei um die gezielte Neugründung von kleinen Gemeinschaften in kirchenfernen Milieus. Chris Edmondson, der Bischof von Manchester, erläutert in Mannheim, wie wichtig es für seine Kirche inzwischen geworden ist, offener auf die Menschen in ihren ganz unterschiedlichen Lebenszusammenhängen zuzugehen, ihre Fragen ernst zu nehmen und eine Vielfalt neuer Formen (vor)kirchlicher Vergemeinschaftung nicht nur zuzulassen, sondern ausdrücklich zu fördern. »Wir laden zur Gemeinschaft ein«, sagt der Bischof und macht klar, dass ohne einen nachhaltigen Mentalitätswandel unter den Christen kirchlich-christliche Zeugenschaft heute und in Zukunft verpuffen muss.
Dabei haben die Anglikaner - nicht alle, aber doch viele - gelernt, dass nicht alle spirituell Suchenden zugleich auch religiös sind und es viele tastende Gespräche in einem Klima des Vertrauens braucht, bis sich Menschen auf eine verbindlichere Form religiöser Gemeinschaft einlassen. »Ein Ja zum Gottesglauben kann bei dem einen oder anderen auch schon mal zehn bis fünfzehn Jahre dauern, aber das ist okay«, sagt Bischof Edmondson abgeklärt. Zuspruch habe man vor allem bei jenen Menschen, »die große Lebensprobleme quälen und die daher sehnsüchtig nach Heilung suchen«.
Lebendige Kirche am Ort
Doch wie kommt fresh expressions ins deutsche Bistum Hildesheim? Mitglieder des Diözesansynodalrats und Verantwortliche im Ordinariat waren in den letzten Jahren gemeinsam in England, Frankreich, Österreich, Südafrika, auf den Philippinen und in den USA. Sie wollten sich dort jeweils ein Bild von neuen kirchlichen Aufbrüchen machen und gemeinsam überlegen, was davon zu Hause umsetzbar wäre. »Kirche für Beginner« ist ein Beispiel.
Der Weg der französischen Diözese Poitiers ein anderes. Hier geht es um die drängende Zukunftsfrage, wie bestehende Gemeinden in den kleinen Orten angesichts fehlender Priester lebendig bleiben können oder neues kirchliches Leben dort überhaupt erst entstehen kann. In Poitiers werden kleine Equipes von Laien vom Bischof offiziell mit der Leitung der Gemeinden betraut - ausgestattet mit einem eigenen Etat und gewählt für vier Jahre. Ähnliches will man nun im Bistum Hildesheim versuchen. In fünf Pilotgemeinden sollen Erfahrungen mit der Gemeindeleitung durch Laien gesammelt werden. In anderen Teilen der katholischen Weltkirche ist das, aus der Not geboren, längst der Fall, etwa in Lateinamerika und in Asien.
Man müsse eben nur das Sakrament der Taufe wirklich ernst nehmen, sagt Eric Boone, Leiter der theologischen Fortbildung im Bistum Poitiers, auf dem Katholikentag. Die mit der Taufe erfolgte Eingliederung in Glauben und Kirche sei die Grundlage der Verantwortung aller Christen für das kirchliche Leben. Christian Hennecke, Regens des Priesterseminars in Hildesheim, verweist zudem auf das allgemeine Priestertum aller Getauften und appelliert an seine klerikalen Kollegen, sich doch darüber zu freuen, wenn ihnen Verantwortung durch kompetente und engagierte Laien abgenommen werde. Doch viele Priester spielen da bislang nicht mit. »Ja, das braucht seine Zeit«, konstatiert Hennecke optimistisch. Wenn er da mal die klerikale Machtideologie seiner Kirche nicht unterschätzt.
Hennecke gehört den Focolarini an, einer geistlichen Bewegung, die auf eine spirituelle Erneuerung der Kirche setzt und zum Beispiel mit der Befreiungstheologie nicht so viel anfangen kann. Dennoch scheinen sich Hennecke und andere Verantwortliche, wie zu hören war, auch mit Mitstreitern zu verstehen, die für ein Christentum eintreten, das immer auch politisch sein muss. »Wir fahren hier in Hildesheim keine Konfrontationsstrategie«, heißt es aus Synodalkreisen. Natürlich knirsche es mitunter, doch eine sie alle das Bemühen, zu verhindern, dass der Karren Kirche in den Graben fährt. Zölibat oder Frauenpriestertum sind hier keine Themen, jedenfalls in der Öffentlichkeit nicht. »Dieser Weg ist eine Gratwanderung«, räumt ein Mitglied des Diözesanrats ein. Ein Helmut Schüller, Vorsitzender der österreichischen Pfarrer-Initiative, darf dann eben auch in Hildesheim nicht öffentlich auftreten - weil es Bischof Norbert Trelle verbietet.
»Ermöglichung« als Leitwort
Lässt man die Veranstaltungen, die in Mannheim von kirchlichen Aufbrüchen berichteten, Revue passieren und klopft sie auf die zentralen Aspekte einer Bewusstseinsveränderung ab, dann begegnen folgende Haltungen: auf die Menschen hören, von den Menschen her denken, die unterschiedlichen Kontexte beachten, in Notsituationen helfen, das heißt dienen, von den Menschen lernen, neue Sicht- und Verhaltensweisen in der Kirche ermöglichen. Diese Haltungen sind gefordert, wenn die Kirche eine Zukunft haben will.
»Ermöglichung, das muss das Leitwort der Zukunft sein«, sagte der Grazer Pastoraltheologe Rainer Bucher auf dem Forum »Kein Aufbruch ohne Abschiede«, das das Zentralkomitee zusammen mit der Kirchenvolksbewegung Wir sind Kirche veranstaltete. Und, so Bucher weiter: »Die Welt muss unsere einzige Aufgabe sein!«
Stapler-Führerscheine, Sexualkunde-Seminare für Jugendliche, Kinderfreizeiten, die nichts kosten, Bewerbungshilfe - das bietet die Gemeinde von Pfarrer Franz Meurer in einem Kölner Problemviertel. »Wir haben hier 76 Prozent Kinder mit Migrationshintergrund«, erzählt der originelle Geistliche. Etwas anderes als eine kreative Sozialraum-Pastoral komme hier gar nicht in Betracht. Frage aus dem Publikum: »Ist das denn noch katholisch?« Meurers Antwort: »Aber ja doch! Gesehen und anerkannt werden - was heißt ›Kind Gottes‹ werden denn anderes?« Und: »Liturgie ohne Diakonie ist Götzendienst.«
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Zuletzt geändert am 10.06.2012