13. September 2006 - Süddeutsche Zeitung
Heilige Bruderschaft
Von Rudolf Neumaier
Am Montag in Altötting sollen sie sich im Garten des Kapuzinerklosters getroffen haben. Auf einen Mittagsspaziergang. So wie es sich Georg Ratzinger immer vorgestellt hatte: Wenn der Bruder in den Ruhestand geht, würden sie viel Zeit miteinander verbringen. Nun aber ist Joseph Papst.
Als Benedikt XVI. am Abend vor seinem Taufstein in Marktl kniete, stand Georg Ratzinger im Hintergrund. Nach der intimen Andacht trat der Papst auf ihn zu und begrüßte ihn mit einem Handschlag. Dieser Handschlag fiel so kurz aus, dass er fast schon wieder wie ein Zeichen von Vertrautheit wirkte. An der Knopfleiste des schwarzen Talars von Georg Ratzinger hing eine rote Poolkarte – als müsste er seine Zugangsberechtigung für die Räume nachweisen, die sein Bruder, der Papst, betritt. Privat hatte sich Georg Ratzinger nicht allzu viel erwartet vom Besuch seines Bruders. In Rom und im päpstlichen Landsitz Castelgandolfo habe er mehr von ihm, sagte er. In Deutschland gehört der Papst dem Volk. Und den Kameras. Immerhin flogen sie dann gemeinsam im Hubschrauber nach Regensburg.
Am Sonntag hatte sich Georg Ratzinger ganz geschont. Sein Bruder hielt den großen Gottesdienst, in dem er die Leute aufrief, wieder Ehrfurcht zu lernen vor Gott. Ihm selbst wäre der Trubel in München zu groß gewesen. Obwohl er nach seinen Herzanfällen jeden Tag genauso selbstverständlich auf dem Ergometer trainiert wie er allmorgendlich die Messe liest, scheute er diese Strapazen. Also setzte sich Georg Ratzinger, 82, vor den Fernseher. Und betete mit.
Das Gefühl, wie es ist, wenn die Leute im Fernseher „Benedetto“ skandieren, wenn das Gesicht des Bruders von Bierflaschen herunterlacht, wenn der eigene Bruder Papst ist, dieses Gefühl hat Georg Ratzinger noch nie genau beschrieben. Fragen danach weicht er aus. Die Ehrfurcht, die Papst Benedikt in München gepredigt hat, ist in beiden Ratzinger-Brüdern tief verwurzelt. Und einen Menschen, der den Glauben aus Ehrfurcht nicht nur gegenüber Gott, sondern auch gegenüber der Kirchenhierarchie heraus definiert, könnte diese Konstellation irritieren: Kann man den eigenen Bruder verehren wie man einen Papst verehrt? Das geht nicht.
Disziplin und Gefühl
Erzählt Georg Ratzinger vom Heiligen Vater, sagt er „der Babbst“. Mit Mundartsprechern unterhält er sich gerne auf Bairisch, dennoch hört man ihn kaum „mei Bruada“ sagen, sondern „mein Bruder“.
Georg ist drei Jahre älter als Joseph Ratzinger. Die Brüder ähneln sich stark, wegen der breit auslaufenden Nase, den braunen Augen, der Haltung, die immerzu Ehrfurcht ausstrahlt. Zusammen traten sie 1946 ins Priesterseminar ein, gemeinsam wurden sie fünf Jahre später zum Priester geweiht. Dann trennten sich die Wege. Georg schlug eine musikalische Laufbahn ein: 1964 trat er die Stelle des Domkapellmeisters in Regensburg an, er wurde Chef der Domspatzen. Mit ihnen machte er zahlreiche Weltreisen und Schallplattenaufnahmen.
Welch großer Musiker er ist, zeigen seine Aufnahmen – markant war der Domspatzen-Klang unter Ratzingers Ägide wegen seiner Reinheit und seines einzigartigen Pianissimo. In den Renaissance-Einspielungen spürt der Zuhörer das hohe Maß an Disziplin, das Ratzinger seinen Buben abverlangte, in den Werken Mozarts sowie der Romantik wiederum zeigt er Gefühl fürs Zarte, Liebliche. Einmal, viele Kirchenmusiker sagen leider nur einmal, komponierte Ratzinger selbst eine Messe, es wird die letzte sein, denn sein Augenlicht ist so schwach, dass er auf die Hilfe wegweisender Begleiter angewiesen ist, wenn er fremde Räume betritt: Seine „Missa L’anno santo“ gilt als Meisterwerk moderner kirchenmusikalischer Harmonik. Der Musiker Georg Ratzinger ist neuen Entwicklungen gegenüber offen.
Der Theologe Georg Ratzinger zuckt jetzt die Schultern. Ja, mit der Ökumene ist das so eine Sache, die Kirche sei nun mal fest in ihren Grundsätzen verankert, wenn, dann müssten sich die Lutherischen bewegen. Und der Priestermangel in Deutschland, nun, was soll man machen? Man kann doch dafür nicht einfach die Regeln ändern. So sieht Georg Ratzinger die Welt. „Ich glaube“, sagt er, „früher war es einfacher, weil es nicht so viele Studierte gab. Mit der Bildung nahm leider nicht nur die Einsicht zu, sondern auch der Individualismus und die Eigenbezogenheit. Die Dominanz der Ratio hat das Zusammenleben erschwert.“
Die Ratio, die Kopflastigkeit der Deutschen – das ist auch ein Thema der Münchner Papst-Predigt gewesen. Die Brüder telefonieren mindestens einmal die Woche zwischen Rom und Regensburg. Theologisch befinden sie sich auf einer Wellenlänge, wobei Georg Ratzinger direkter formuliert. Dass es sich bei der Laienorganisation „Wir sind Kirche“ um „eine üble Sekte“ handelt, würde der Papst niemals so deutlich artikulieren wie sein älterer Bruder. Aber ein emeritierter Domkapellmeister, Prälat und Apostolischer Protonotar wird nicht an diplomatischen Höflichkeiten gemessen.
Ein Abschied
Das Haus von Georg Ratzinger steht in einer Seitengasse der Regensburger Altstadt. Das Telefon, das ihn mit dem Bruder verbindet, steht im ersten Stock. Im Wohnzimmer hängt ein großes Bild von Papst Benedikt XVI. Hier wird er von der treusorgenden Haushälterin Frau Heindl verpflegt. Von hier aus lässt er sich zu den vielen Termine chauffieren, die ihm als Papst-Bruder zugetragen werden – hier eine neue Statue einweihen, dort ein Buch präsentieren, solche Dinge.
An diesem Mittwoch wird der Papst eine Orgel segnen, aber hauptsächlich wird er den Tag mit ihm verbringen. Er wird Georg Ratzingers Wohnung in der Altstadt und das gemeinsame Anwesen im nahen Pentling besuchen. Diese Orte wird er dann wohl nie wiedersehen.
Zuletzt geändert am 15.09.2006