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Veröffentlicht am 24­.09.2015

24.9.2015 - Die Welt

Kardinal Marx findet Angst vor Islamisierung abwegig

Der Chef der Deutschen Bischofskonferenz glaubt nicht, dass sich die Bundesrepublik religiös stark verändern wird. Sorgen will er aber ernst nehmen – und den Dialog mit den Muslimen intensivieren.

Kardinal Reinhard Marx hat Prognosen von einer Islamisierung Deutschlands im Zuge der Flüchtlingskrise als abwegig bezeichnet. Bei 83 Millionen Einwohnern werde die gegenwärtige Zahl der Flüchtlinge die religiöse Zusammensetzung der Gesellschaft nicht entscheidend verändern, sagte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda (Hessen). Entsprechende Ängste und Sorgen müssten aber ernst genommen werden.

Marx betonte, eine Integration von Flüchtlingen, Bildungs- und Berufschancen seien das beste Mittel gegen Radikalisierung. Er mahnte, dass eine "langfristig ausgerichtete Kultur der Gastfreundschaft und Integration" nötig sei. Wer Flüchtlinge ausgrenze, erhöhe das Risiko, dass sie in die Hände von Leuten fielen, die sie fanatisieren wollen.

Der Kardinal betonte, die beiden großen christlichen Kirchen wünschten angesichts der neuen Situation einen "strukturierten Dialog" mit den Muslimen und ein intensiveres interreligiöses Gespräch in Deutschland. Marx bezeichnete die Flüchtlingskrise als eine der größten Herausforderungen der vergangenen Jahrzehnte, schwieriger noch als die deutsche Einheit.

"Europa steht am Scheideweg."

Marx lobte die Einigung der EU-Staats- und Regierungschefs als wichtiges Signal. Die Verteilung von 120.000 Flüchtlingen auf alle Mitgliedsländer und die Aufstockung der finanziellen Hilfen für die Versorgung in Krisengebieten, auf die sich der Sondergipfel am Mittwoch geeinigt hatte, seien richtige Schritte.

100 Millionen Euro zusätzlich für Flüchtlinge

Die Krise bestimmte weite Strecken der Vollversammlung; für Gespräche mit Oberbürgermeistern, ehrenamtlichen Helfern und Experten von Hilfsorganisationen verzichteten die 66 Bischöfe auf ihre traditionelle Tagesordnung. An die Adresse der Politik gerichtet, warnten die Bischöfe vor einer Aushöhlung des Asylrechts und den vom Verfassungsgericht vorgegebenen Standards einer menschenwürdigen Versorgung. "Jeder Mensch, der in unserem Land um Schutz bittet, hat ein Recht auf ein individuelles, rasches, faires und unvoreingenommenes Asylverfahren", betonte der für Migrationsfragen zuständige Hildesheimer Bischof Norbert Trelle.

Den Flüchtlingen müssten von Anfang an aussichtsreiche Bildungs- und Berufsperspektiven eröffnet und eine aktive Teilhabe am Gemeinwesen ermöglicht werden, sagte der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki. Das ist nach Einschätzung der Bischöfe auch ein entscheidendes Mittel gegen Einflussversuche fanatischer Islamisten.

Nach Angaben von Marx stellten Diözesen, Gemeinden und Hilfswerke 2015 finanzielle Sondermittel von etwa 100 Millionen Euro für die Flüchtlingsarbeit bereit, davon 32,1 Millionen Euro für die Arbeit in den Herkunftsländern und 66,5 Millionen Euro für das Inland. Mehr als 800 Wohnobjekte habe die Kirche in Deutschland mietfrei bereitgestellt. Rund 3000 hauptamtliche Mitarbeiter engagierten sich für Flüchtlinge. Die Zahl der ehrenamtlichen Helfer beider Kirchen wird auf 200.000 geschätzt.

Trelle berichtete von einem positiven Effekt der Flüchtlingskrise: Sie aktiviere viele Katholiken und Gemeinden, überwinde Grenzen zwischen Konfessionen und Religionen. "Vieles ist in Bewegung geraten."

Bald steht die Weltbischofssynode an

Auch die bischofskritische Bewegung Wir sind Kirche fand lobende Worte. Für sie ist das starke Engagement der Katholiken aber zugleich ein Beleg dafür, wie wichtig funktionierende Kirchenstrukturen bis in die kleinsten Orte sind. Sprecher Christian Weisner appellierte deshalb an die Bischöfe, den "massiven Rückbau pastoraler Strukturen" wie etwa Gemeindeschließungen und -zusammenlegungen zu beenden.

Die Zukunft der Seelsorge in den Zeiten des Priestermangels war ein weiteres Schwerpunktthema der Vollversammlung. Die Bischöfe präsentierten ein in einem mehrjährigen Prozess entstandenes Papier zur Erneuerung der Pastoral. Darin fordern sie ein partnerschaftlicheres Verhältnis zwischen Priestern und Laien, mehr Verantwortung für Laien und insbesondere Frauen sowie einen Abschied vom Versorgungsdenken in den Pfarreien. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) sprach von einem Meilenstein.

In den internen Beratungen der Bischöfe spielte auch die mit Spannung erwartete Weltbischofssynode zu Familienfragen eine große Rolle. Auf die deutschen Delegierten – mit Marx reisen der Berliner Erzbischof Heiner Koch und der Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode nach Rom – warten ab 4. Oktober anstrengende Debatten, begleitet von hohen Erwartungen vieler deutscher Katholiken.

http://www.welt.de/politik/deutschland/article146818206/Kardinal-Marx-findet-Angst-vor-Islamisierung-abwegig.html

Zuletzt geändert am 25­.09.2015