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Veröffentlicht am 01­.06.2016

1.6.2016 - Süddeutsche Zeitung

Kirchliche Experimente

Kardinal Marx will Modelle entwickeln lassen, um den Priestermangel aufzufangen

Die katholische Kirche ruft ihre Gläubigen zum Experimentieren auf – und lockert dafür umstrittene Vorgaben ihrer Strukturreform. Wie das Erzbistum München und Freising am Dienstag mitteilte, hat Kardinal Reinhard Marx Priester und pastorale Mitarbeiter in einem Brief dazu aufgefordert, neue Modelle für die Seelsorge und für die Leitung von Gemeinden und Pfarrverbänden zu entwickeln; als Orientierungshilfe hat der Bischofsrat des Erzbistums Leitlinien erarbeitet. Ausgewählte Konzepte will die Kirche anschließend in Pilotprojekten ausprobieren.

Es gehe darum, Wege zu finden, wie die Pfarrer Aufgaben und Verantwortung delegieren können, auch an Laien, heißt es aus der Kirche. Damit rückt die Erzdiözese ein Stück weit von ihrer Regel ab, dass Pfarreien ausschließlich von geweihten Priestern geleitet werden dürfen. Je nach den Bedingungen in den einzelnen Pfarrgemeinden sollten Haupt- und Ehrenamtliche stärker an den Seelsorge- und Leitungsaufgaben teilhaben. Ideen, wie das konkret geschehen soll, überlässt der Kardinal den Gemeinden; Denkverbote nennt er nicht. Wörtlich schreibt er in seinem Brief, man müsse offen sein für „neue Wege und Experimente“. Oberstes Ziel sei, dass die Seelsorge und die Menschen von den neuen Ideen profitieren.

Die Vorgabe, dass die Leitung einer Pfarrei oder eines Pfarrverbands geweihten Priestern vorbehalten sein soll, gehört zu den zentralen Kritikpunkten an der 2010 verabschiedeten Strukturreform in der Erzdiözese; denn weil die Zahl der Priester langfristig sinkt, sind in den vergangenen Jahren vorausblickend die meisten der einst mehr als 700 Einzelpfarreien fusioniert oder zu Verbänden zusammengelegt worden. Gleichzeitig ist die Kritik an der Reform gewachsen: Pfarrer mussten zunehmend Verwaltungsaufgaben übernehmen und klagten, ihnen bleibe nicht mehr genügend Zeit für die Seelsorge; Gläubige fühlten sich von der Kirche vernachlässigt, Laien nicht mehr ausreichend ernst genommen.

Erschwerend kam für viele Gläubige hinzu, dass es unter Kardinal Friedrich Wetter, dem Vorgänger von Reinhard Marx im Amt des Erzbischofs von München und Freising, entsprechende Ausnahmen gegeben hatte – also etwa den Fall, dass an der Spitze einer Gemeinde oder eines Pfarrverbands statt eines geweihten Priesters zum Beispiel ein Pastoralreferent stand. Kritiker der Strukturreform wie die Priester und Diakone des „Münchner Kreises“ oder die Laien in der „Gemeindeinitiative“ im Erzbistum sowie in der Bewegung „Wir sind Kirche“ fordern daher seit Jahren, die Erzdiözese solle Laien wieder erlauben, Pfarrgemeinden zu leiten.

Die Kirche hat auf die Probleme mittlerweile reagiert: Bereits Ende 2014 kündigte sie an, sie wolle die Strukturreform überdenken, nicht nur wegen des Mangels an Priestern, sondern auch, damit sich haupt- und ehrenamtliche Laien besser einbringen könnten, wie es damals hieß. Weitere Zusammenlegungen von Pfarreien zu Verbänden solle es nicht mehr geben. Wenig später stellte das Erzbistum Verwaltungsleiter ein, um die Pfarrer von Management-Aufgaben zu entlasten und ihnen mehr Zeit für die Seelsorge zu verschaffen. Und erst im März kündigte die Kirche an, Forscher der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Paderborn sollten in einer groß angelegten Umfrage die bisherigen Ergebnisse der Strukturreform im Erzbistum auf den Prüfstand stellen.

Auch der Aufruf jetzt ist ein Schritt auf diesem Weg – er ist aber auch eine Folge des sogenannten Zukunftsforums der Erzdiözese. Von 2008 bis 2010 hatten 126 repräsentativ bestimmte Geistliche und Laien 61 Reformvorschläge erarbeitet; einer von diesen war, dass die Zusammenarbeit von Priestern und Laien klar geregelt werden muss. Seit 2013 arbeitet im Ordinariat die Projektgruppe „Pastoral planen und gestalten“ daran, Ideen für eine zukunftsfähige Seelsorge zu entwickeln.

Wie viel Spielraum die Gemeinden nun tatsächlich haben, um neue Seelsorge- und Verwaltungskonzepte auszuprobieren, ist unklar. Die Leitlinien des Bischofsrats, dem neben Erzbischof Marx auch Generalvikar Peter Beer und die Bischofsvikare der drei Seelsorgsregionen angehören, sind zwar recht allgemein gehalten: An der Sendung der katholischen Kirche sollten „alle Getauften und Gefirmten auf vielfältige Weise gemäß ihrer jeweiligen Berufung und Sendung“ mitwirken, heißt es dort zum Beispiel, und: „Kirchliches Leben muss vor Ort lebendig bleiben.“ Aber ganz frei sind die Gemeinden nicht: Marx zufolge sollen sie ihre neuen Konzepte gemeinsam mit der Projektgruppe „Pastoral planen und gestalten“ sowie in Abstimmung mit dem für sie jeweils zuständigen Bischofsvikar formulieren. Nach den Angaben der Projektgruppe soll die Testphase dann im Herbst dieses Jahres beginnen und bis 2018 dauern.

Wie viel Spielraum die Gemeinden für neue Seelsorgekonzepte haben, ist unklar

JAKOB WETZEL

Zuletzt geändert am 01­.06.2016