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Veröffentlicht am 18­.11.2016

18.11.2016 - Schwäbische Zeitung

Barmherzigkeit bleibt Daueraufgabe

Am Sonntag endet das Heilige Jahr – Kritik aus Politik und Kirchenkreisen

Weniger Hass, mehr tätige Nächstenliebe. Weniger Gewalt, auch in der Sprache, mehr Aufmerksamkeit für andere: In diesen Tagen zieht die katholische Kirche eine erste, positive Bilanz des Jahres der Barmherzigkeit, das Papst Franziskus am Sonntag in Rom beenden wird. Aktueller könnte eine Papst-Initiative angesichts des Syrienkrieges und der Flüchtlingskrise, des weltweiten Vormarsches der Rechtspopulisten und um sich greifender Hassparolen nicht sein, sind sich Kirchenführer einig. Aber der Vorstoß von Franziskus trifft auch auf Vorbehalte: in der Politik und bei Kardinälen im Ruhestand.

Wo die deutschen katholischen Bischöfe in der Flüchtlingsfrage stehen, wird nicht erst seit dem Beginn des Jahres der Barmherzigkeit deutlich. Im Kölner Dom wurde ein Flüchtlingsboot aufgestellt. Im bayerischen Tutzing, im Sprengel des Münchner Kardinals und Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, gewährt eine katholische Kirchengemeinde Flüchtlingen Kirchenasyl.

Christlicher Auftrag

Mit solchen Initiativen provozieren die Oberhirten Kritik und distanzieren sich von Weggefährten wie etwa der CSU: Erst kürzlich hatte der bayerische Finanzminister Markus Söder, der evangelisch ist und der bayerischen Landessynode angehört, in einem Interview gesagt: „Der Staat soll sich um seine Angelegenheiten kümmern, die Kirche um ihre.“ Kardinal Marx entgegnete, diese Aufteilung sei nicht im Sinne der katholischen Soziallehre. Zwar seien die Bischöfe keine Politiker, doch viele Christen seien in der Politik tätig, denn die Gestaltung der Welt sei ein christlicher Auftrag.

Der Münchner Erzbischof erinnert in diesen Tagen zugleich daran, dass Barmherzigkeit und Gerechtigkeit zusammengehören. Daher handeln die Bischöfe im Sinne des Papstes, wenn Marx betont: „Ich möchte keinen Streit, kann aber von den Grundpositionen nicht abgehen.“ So könne es ein Bischof nicht hinnehmen, dass im Mittelmeer weiter Menschen ertränken. Auch stehe einem Flüchtling, der an die Grenze komme, ein faires Verfahren zu. Zudem müsse alles getan werden, damit Menschen nicht aus ihrer Heimat fliehen müssten, so der Kardinal.

Solche klaren Worte und Taten wie in Tutzing führen innerkirchlich zu ganz neuen Sichtweisen. Die gegenüber den Bischöfen und Rom kritische Bewegung „Wir sind Kirche“ sieht das zu Ende gehende Heilige Jahr der Barmherzigkeit als „wichtigen Schritt des Übergangs von einem Kirchenverständnis, das viel zu stark auf Recht und Gesetz als auf Liebe und Vertrauen baut“. Vorsitzender Christian Weisner spricht „von einem reglementierenden Kirchenverständnis hin zu einer Kirche, die sich auf dem Fundament der Frohen Botschaft den Menschen in aller Welt zuwendet.“ Mit der Wiederentdeckung der Barmherzigkeit als erstes Attribut Gottes habe Franziskus ein Zeichen der Neuausrichtung gesetzt.

Wie sich Franziskus Barmherzigkeit praktisch vorstellt, hat er immer wieder selbst gezeigt. An den Freitagen der Barmherzigkeit besuchte er jeden Monat, immer unangekündigt, eine soziale Einrichtung, um ein Zeichen zu setzen. Er fuhr zu den Erdbebenopfern im italienischen Amatrice. Zuletzt hatte er 5000 Obdachlose in den Vatikan eingeladen, dann traf er sich mit ehemaligen Priestern und ihren Familien.

„Große Verwirrung“

Doch auch aus dem eigenen Lager weht dem Papst Wind entgegen: Im Frühjahr hatte Franziskus für einen barmherzigeren Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen plädiert. Jetzt appellieren mehrere Kardinäle, darunter der ehemalige Kölner Erzbischof Joachim Meisner, mehr Klarheit zu schaffen. Nach dem päpstlichen Schreiben „Amoris laetitia“ gebe es „eine ernste Verunsicherung vieler Gläubiger und eine große Verwirrung“, heißt es in einem Brief: ein Frontalangriff auf Franziskus, der den Kritikern zu lasch ist.

Die deutschen Bischöfe wollen auch nach dem Ende des Jahres der Barmherzigkeit den neuen Kurs fortführen. Als „Blaupause“ für barmherziges Handeln bezeichnet der Rottenburger Bischof Gebhard Fürst die Mantelteilung des heiligen Martin von Tours. Es gehe nicht nur um Kleidung, Nahrung und Arbeit, sondern auch um Aufmerksamkeit, Zuwendung und Wertschätzung. Und nochmals Kardinal Reinhard Marx: Er ruft vor allem junge Christen dazu auf, sich gegen eine „Kultur der Unbarmherzigkeit und des Hasses“ einzusetzen. Vor allem kritisiert Marx die um sich greifende Sprache. Die jungen Leute sollten sich auf den Weg machen, aufmerksam, hellwach, damit das Miteinander nicht in eine Kultur der Unbarmherzigkeit abgleite, sei es in der politischen Welt oder im eigenen kleinen Umfeld.

Kernanliegen des Papstes

Ein Mammutprojekt von Papst Franziskus geht seinem Finale entgegen: das Heilige Jahr. Am Sonntag schließt der Papst in einer feierlichen Zeremonie die Heilige Pforte des Petersdoms und beendet damit für die katholische Kirche zwölf Monate, die ganz im Zeichen der Barmherzigkeit stehen sollten. Franziskus selbst bot das Heilige Jahr ein Forum, um das Kernanliegen seines Pontifikats in der katholischen Kirche fester zu verankern: die Barmherzigkeit. Kaum eine Predigt des Papstes, in der das Wort fehlte.

Die Barmherzigkeit sei in den vergangenen zwölf Monaten zurückgekehrt und „wieder das pulsierende Herz des Lebens der Kirche geworden“, resümierte ein Kurienbischof.

Im Laufe des Heiligen Jahres kam die katholische Kirche in ihrer ganzen Vielfalt nach Rom: Priester, Diakone, Freiwillige und Sozialarbeiter, Familien, marianische Bruderschaften und andere. Die Zahl der Besucher im laufenden Jahr wird aber wohl noch unter den 14 Millionen vom Vorjahr liegen. Die Menschenmassen sind ausgeblieben. (mö/kna)

http://www.schwaebische.de/politik/ausland_artikel,-Barmherzigkeit-bleibt-Daueraufgabe-_arid,10565266.html

Zuletzt geändert am 18­.11.2016