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Veröffentlicht am 03­.08.2018

3.8.2018 - St.Galler Tagblatt

«Humanae Vitae»: Ein Papst spaltet das Volk

Mit der Enzyklika «Humanae Vitae» über die Weitergabe des Lebens verbot Paul VI. vor genau 50 Jahren die künstliche Empfängnisverhütung. Die Weisung sorgt auch heute noch für Zündstoff und Spannungen.
Andreas Faessler
 
Es sollte eines der meistdiskutierten Schreiben des Heiligen Stuhls werden, die Enzyklika «Über die rechte Ordnung der Weitergabe menschlichen Lebens». Populärer unter der Bezeichnung «Humanae Vitae» («Menschliches Leben»), erliess Papst Paul VI. – am kommenden Montag, 6. August, jährt sich sein Todestag zum 40. Mal – exakt vor 50 Jahren eine verbindliche Weisung zur Zeugung neuen Lebens innerhalb der ehelichen Verbindung. Seine Forderungen waren rigoros. Dass der sexuelle Akt ausschliesslich innerhalb der Ehe und mit dem Ziel der Kindes­zeugung stattfinden soll, war das eine. Das andere, viel Durchschlagendere war das ausdrückliche Verbot der künstlichen Empfängnisverhütung.

Mit diesem Erlass stach der Papst wahrhaftig in ein Wespennest: Die sexuelle Revolution war in vollem Gange, Frauen hatten mit der wenig zuvor eingeführten Pille ein grosses Stück Selbstbestimmung erhalten, und der Wissenschaft war es erstmals gelungen, einer werdenden Mutter einen künstlich erzeugten Embryo einzupflanzen. Da war das Schreiben von «Pillen-Paule», wie der Papst wegen seines Verbots spöttisch bezeichnet wurde, wie ein donnernder Paukenschlag. Was hat die Kirche nun in den Schlafzimmern der Gläubigen verloren? Warum dieser Rückschritt in die vorkonziliäre Epoche?

Ungehorsame Bischofskonferenzen

Beim Volk löste das Schreiben viel Verwirrung aus, welche bis zum heutigen Tage anhält und rege für Disput sorgt. Erst vor kurzem pochte der Churer Bischof Vitus Huonder auf die Enzyklika, indem er die Verhütung wortwörtlich als eine «Kultur des Todes» bezeichnete (Ausgabe vom 29. Juni 2018). Experten sind rückblickend überzeugt, dass sich die Kirche mit der «Humanae Vitae» bei ihren Gläubigen viel verspielt hat.

Auch die Reaktionen auf die Enzyklika innerhalb der katholischen Kirche waren alles andere als einheitlich. Noch im Jahre der Veröffentlichung äusserten sich die Deutsche und die Belgische Bischofskonferenz stark relativierend über die päpstliche Weisung, auch die Schweizer und die Österreichische Bischofskonferenz schlossen sich dieser Haltung an.

Jeder Einzelne sollte die Möglichkeit haben, in bestimmten Fällen nach gewissenhafter Prüfung vor Gott entgegen der Lehräusserung zu handeln, war der Grundtenor. Diese Auffassung legt der katholische Moraltheologe Eberhard Schockenhoff anlässlich 50 Jahre «Humanae Vitae» nun breiter und deutlicher aus. Die Enzyklika sei aus moraltheologischer Sicht ein Abschied vom Naturrecht, wird er zitiert. Es sei durch eine autonome Moral abgelöst worden. Doch wiege eine befohlene Norm weniger als das Gewissen des Einzelnen – auch christliche Moral habe vernunftgemäss begründet zu sein, ist Schockenhoff der Ansicht.

Wird die Enzyklika «neu geschrieben»?

Konservative Kreise verteidigen die «Humanae Vitae» bis heute und beklagen die Haltung der beiden letzten Päpste. Der grundsätzlich linientreue Benedikt XVI. hat die ausdrückliche Lehre in keinem Wort wiederholt. Franziskus I. räumt Gläu­bigen eine «Gewissensentscheidung» ein und hat mit einer eigens einberufenen geheimen Kommission die Enzyklika «im Lichte des nachsynodalen apostolischen Rundschreibens ‹Amoris Laetitia›» neu interpretieren lassen.

Ende Juli hat der Kommissionsvorsitzende Msgr. Gilfredo Marengo erste Resultate vorgelegt, wie in der «Avvenire», dem Publikationsorgan der Italienischen Bischofskonferenz, zu lesen war. Man sei zum Entschluss gekommen, die Geschichte der Enzyklika Papst Pauls «neu zu schreiben», und zwar werde dies nicht im Sinne derjenigen ausfallen, welche die Weisung noch immer als «unfehlbar und unabänderlich» hielten. Die Stossrichtung scheint sich jetzt schon deutlich abzuzeichnen. Franziskus «entsorge» die «Humanae Vitae», befürchten Konservative.

Neuinterpretation notwendig

Die progressive Kirchenvolksbewegung «Wir sind Kirche» ist der Ansicht, dass eine in eine bestimmte Zeit hinein gesprochene Aussage keine Festlegung sei, denn auch die christliche Anthropologie bedürfe immer wieder einer Interpretation, welche die Menschen leben können. Sie spricht dem Inhalt der Enzyklika als Glaubenslehre die Verbindlichkeit ab, zumal aus der Heiligen Schrift von keiner Stelle abzuleiten sei, dass künstliche Empfängnisverhütung unsittlich sein sollte. Weiter führt «Wir sind Kirche» das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) an, das die künstliche Geburtenregelung nicht verbietet.

Allen Anzeichen nach ist es nicht auszuschliessen, dass «Humanae Vitae» in absehbarer Zeit offiziell relativiert wird. Dies könnte, so sind sich viele Theologen einig, das allgemeine Vertrauen der Gläubigen in das kirchliche Lehramt wieder stärken.

https://www.tagblatt.ch/leben/ein-papst-spaltet-das-volk-ld.1042289

Zuletzt geändert am 03­.08.2018