27.9.2018 - DIE ZEIT Glauben & Zweifeln
Das Schweigen
Wie die Vertuschung des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche funktionierte. Und warum das Problem
auch in Deutschland noch nicht gelöst ist VON EVELYN FINGER, WOLFGANG THIELMANN, VERONIKA VÖLLINGER UND MARC WIDMANN
...
Katharina B. kann das verstehen. Die Katholikin hat
zehn Jahre lang getan, was sonst keiner tun wollte, von
2002 bis 2012: Sie betreute ganz allein das anonyme
Betroffenentelefon der Laienbewegung »Wir sind Kirche
«, bevor die Bischofskonferenz auf die Idee kam, eines
einzurichten. Frau B. will ihren wahren Namen nicht
nennen, nicht aus Angst vor rachsüchtigen Tätern, nicht
aus Sorge vor einem Ansturm dankbarer Betroffener,
sondern weil sie weiß, dass viele Katholiken, ihre Nachbarn,
das Thema auch nicht mögen. Über 400 Betroffene
und deren Fälle hat sie in Ordnern gesammelt. Allen
versuchte sie zu helfen, durch Zuhören, durch Ratschläge,
durch Druckmachen bei den Bistümern. Für manch
einen führte sie bis zu fünfzig Telefonate.
Frau B. sitzt in ihrem Garten in Bayern, in einem
Dorf nahe Regensburg, der Blick geht über die Friedhofsmauer
auf einen Jesus am Kreuz, in Gold. Ausgerechnet!
Nein, sagt die weißblonde beherzte Dame von 76 Jahren,
sie schaue da nicht gern hin. In Gold! Fangen wir mit
dem Erfolg an, ihrem einzigen, wie sie behauptet, da
wurde nämlich der Täter durch seinen Orden belangt.
Sonst wurde nie einer belangt, darüber ist sie noch immer
wütend. Traurig wohl auch, aber das sagt sie nicht, sie
will das Leben positiv sehen. Trotz ihrer Erfahrung, dass
es beim Missbrauch der Kinder fast immer um Vergewaltigung
ging. Eine 86-jährige Frau beispielsweise, die mit
sechs Jahren missbraucht wurde vom Ortskaplan. Noch
nie habe sie das jemandem erzählt. »Und sie wusste nach
all den Jahren noch genau den Tag!« Auch Frau B. weiß
ihn, es war der Himmelfahrtstag. Seltsam, dass man so
etwas nie mehr vergisst. Die Mütter, die ihren kleinen
Sohn zu den Patres brachten und nachher wieder abholten.
Die Mütter, die ihre Kinder ins Gesicht schlugen,
wenn die »etwas Böses« über den Pfarrer sagten. Überhaupt,
das Schweigen. Es betrifft ja keineswegs nur die
Bischöfe, aber die eben auch.
Frau B. hat ihnen das nie durchgehen lassen. Als eine
Frau anrief, die sich das Leben nehmen wollte, auch weil
im Bistum Trier keine ihr Leid anhören wollte, da gebot
die Telefonseelsorgerin ihr, doch noch zu warten. Frau
B. rief, so sagt sie, bei der Sekretärin von Bischof Ackermann
an. Nein, hieß es, der sei außer Haus. Na, sagte die
Telefonseelsorgerin, irgendwann werde er wohl heimkommen.
Die Sekretärin möge ihm einen Zettel an die
Tür kleben, dringend. Am nächsten Tag bekam Frau B.
einen Rückruf von der Betroffenen, die unter Tränen
berichtete, nun habe sie wirklich endlich der Bischof
angerufen, er habe ihr zugehört! Katharina B. erzählt,
mit den Jahren habe sie ein sicheres Gefühl dafür erworben,
wenn in dieser Sache jemand lüge. Kam aber fast
nie vor. Auch deshalb hat sie versucht, ihre vierhundert
Fälle den Forschern zu übergeben, die jetzt die Studie für
die Bischofskonferenz erstellt haben, natürlich anonymisiert.
Sie fuhr extra nach Mannheim, wurde jedoch
wieder heimgeschickt mit dem Bescheid: Um das aufzunehmen,
reiche weder die Zeit noch das Geld.
Das muss erschütternd gewesen sein. Sie lässt es sich
nicht anmerken. Munter sagt sie, dass sie, zwei Jahre
nachdem sie das Telefon nicht mehr betreute, endlich
wieder durchschlafen konnte. Auch das mit dem exzessiven
Kaffeekonsum und den vielen Zigaretten sei gottlob
vorbei. Nur heute früh, sagt sie, als sie im Buch von
Doris Wagner gelesen habe, habe sie zu zittern begonnen.
Sie kann Fälle erzählen bis zum Dunkelwerden. Sie hat
einen sehr schön geschmückten Herrgottswinkel, aber
sie geht nicht in jede Kirche, nur dorthin, wo sie Vertrauen
hat, Konfession egal. Apropos, ihr allererster »Fall«
sei eine evangelische Pfarrerstochter gewesen, die vom
Vater missbraucht worden sei.
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Zuletzt geändert am 02.10.2018