14.11.2019 - rp-online.de
Priester unter Generalverdacht
Düsseldorf Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein neuer Fall sexuellen Missbrauchs bekannt wird. Manchmal sind die Beschuldigungen vage, die Beschuldigten aber wehrlos. Das bedeutet oft den sozialen Tod eines Menschen.
Von Lothar Schröder
Dieser Skandal wird kein Ende nehmen. Seit nunmehr zehn Jahren stellt sich die katholische Kirche in Deutschland eingehender dem schockierenden Befund, dass Priester in erheblicher Zahl Minderjährige sexuell missbraucht haben. Die Kirche hat sich dem Skandal spät, dann aber in mehreren Schritten zugewandt: mit der Annahme von Schuld, den Gesprächen mit Opfern, der Ernennung von Präventionsbeauftragten in allen Diözesen, mit einem Maßnahmenkatalog zur Aufklärung und Aufarbeitung – und vor allem mit der Missbrauchsstudie im vergangenen Jahr, die das vermutliche Ausmaß auch mit Zahlen dokumentierte. Danach fanden sich in den Personalakten ab 1946 bei 1670 Klerikern Hinweise des sexuellen Missbrauchs.
Seither vergeht kaum ein Tag ohne neue Beschuldigungen – wie jüngst in Düsseldorf und zuletzt in Mönchengladbach. Dort wurde die Gemeinde vom Generalvikar des Bistums Aachen im Gottesdienst informiert, dass ihr 55-jähriger Pfarrer vom priesterlichen Dienst beurlaubt sei. In dem verlesenen Brief ist von Hinweisen „auf ein grenzwertiges Nähe-Distanz-Verhalten gegenüber Kindern und Jugendlichen“ die Rede. Als eine Vorverurteilung haben viele Gottesdienstbesucher die öffentliche Bekanntmachung empfunden.
Info
Chronik zum Umgang der Kirche mit Missbrauch
Januar 2010 Am Canisius-Kolleg der Jesuiten in Berlin werden Fälle sexueller und körperliche Gewalt aufgedeckt.
März 2010 Auch bei den Regensburger Domspatzen wird Missbrauch aufgedeckt. Bis 2016 melden sich mehr als 400 Betroffene.
Juni 2010 Papst Benedikt XVI. bittet die Missbrauchsopfer um Vergebung.
August 2010 Die deutschen Bischöfe verständigen sich auf Leitlinien zum Umgang mit Missbrauch.
Mai 2011 Der Vatikan gibt Leitlinien gegen Missbrauch heraus.
März 2014 Die katholische Kirche in Deutschland startet ein Forschungsprojekt zur Aufarbeitung.
November 2014 Der Papst beruft in der Glaubenskongregation ein Gremium, das die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen erleichtern soll.
Juni 2015 Der Vatikan richtet eine juristische Instanz ein, um gegen Bischöfe vorzugehen, die Kinder nicht vor Missbrauch schützen.
Februar 2019 Gipfel der nationalen Bischofskonferenzen und der Ordensoberen im Vatikan
Für den Kölner Psychiater und Theologen Manfred Lütz (64), der vielfach für die katholische Kirche in Deutschland und im Vatikan tätig ist, ist jede pauschale Ausweitung des Begriffs „sexueller Missbrauch“ schwierig. Ein problematisches Nähe-Distanz-Verhalten lässt nach seinen Worten „die Zahl der Beschuldigungen theoretisch ins Unermessliche steigen“. Und: „Viele kirchlich Verantwortliche haben offensichtlich nicht die Kraft, sich solchen überzogenen Reaktionen zu widersetzen und zumindest für die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien zu sorgen. Das Ergebnis ist inzwischen eine zweite Opfergruppe, die unschuldig Beschuldigten“, so der 64-Jährige. Den Fall aus Mönchengladbach kenne er zwar nicht und könne ihn nicht abschließend beurteilen, wenn „aber ohne Veröffentlichung niemand gefährdet wird, sollte man man mit einer Veröffentlichung abwarten, bis Gewissheit besteht“.
Als Priester „müssen wir und muss auch ich damit leben, dass wir derzeit unter Generalverdacht stehen“, sagte uns vor geraumer Zeit Bischof Felix Genn aus Münster. Danach sieht bei vielen Menschen das Bild eines Priesters so aus, dass dieser sexuell verklemmt und unreif sei und kleine Kinder missbrauche.
Immer wieder wird auch das zölibatäre Leben dafür verantwortlich gemacht. Wobei es Studien längst widerlegten, dass Triebunterdrückung ein sexuelles Fehlverhalten fördert. So sind auch die evangelischen Landeskirchen nicht vor Missbrauchsfällen gefeit. Von 770 Missbrauchsopfern war in dieser Woche auf der Tagung der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland die Rede.
Es gibt keine Alternative zur Aufklärung. Doch dazu gehört auch die Verantwortung gegenüber den vermeintlichen Tätern. Ist der Vorwurf des Missbrauchs einmal in der Öffentlichkeit, bedeutet die Beschuldigung „oft den sozialen Tod eines Menschen: Freunde wenden sich ab, niemand hilft. Und wenn die Unschuld erwiesen ist, kehren die Freunde in der Regel nicht zurück“, sagt Manfred Lütz. Nach seinen Erfahrungen würden kirchliche Verantwortliche nicht selten vorschnell Namen und Daten preisgeben – auch aus Angst, selber nicht ins Gerede zu kommen. Zu selten werde dabei bedacht, „dass intelligente junge Männer sich nicht für einen Beruf entscheiden werden, der die Gefahr birgt, sich trotz Unschuld sozial zu ruinieren“.
Wenn aber das zölibatäre Leben Missbrauch nicht begünstigt, sind es andere, längst bekannte Faktoren: Machtverhältnisse gegenüber Schutzbefohlenen sowie hermetische Räume, die der öffentlichen Wahrnehmung entzogen sind. Auch darum sind Familien und Sportvereine gleichfalls häufige Orte sexuellen Missbrauchs. Die Gründe sind also, wie man gern sagt, „systemischer“ Natur. Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck gehört zu denen, die in den Systemstrukturen der katholischen Kirche Gründe für Delikte sexuell motivierter Gewalt sehen. „Sexueller Missbrauch ist nicht nur ein persönliches Thema einzelner Täter, sondern vor allem ein Thema der gesamten Kirche“, betont Overbeck.
Deren Aufklärungsarbeit lässt mitunter Zweifel an einen Wandel aufkommen – wie im Fall des Düsseldorfer Stadtdechanten Ulrich Hennes, dem sexuelle Belästigung vorgehalten wurde. Nachdem strafrechtliche Untersuchungen und auch ein innerkirchliches Gutachten den Priester entlastet hatten, wurde er des Amtes enthoben, da das „Vertrauen tief erschüttert“ sei. Doch nur kurze Zeit später machte das Erzbistum das Amtsenthebungsverfahren rückgängig, als Hennes erklärte, auf sein Amt als Stadtdechant zu verzichten. Danach darf er wieder als Priester tätig sein; das „tief erschütterte Vertrauen“ war also in Kürze wiederhergestellt.
In der Kritik steht auch der jüngste Beschluss der Bischöfe, Opfer sexualisierter Gewalt weit höher zu entschädigen: entweder pauschal mit 300.000 Euro oder abgestuft zwischen 40.000 und 400.000 Euro. Bei vermuteten 3000 Opfern käme ein Betrag von knapp einer Milliarde Euro zusammen. Bezahlt werden soll das aus Mitteln der Kirchensteuer. Dagegen gibt es vehemente Proteste: „Solidarität ja – Kostenabwälzung nein“ fordert die Kirchenvolksbewegung „Wir sind Kirche“. In der Tat ist es nachvollziehbar, dass für das Versagen der Kirchenleitungen die Gläubigen nicht einzustehen haben. Gefordert wird darum, Entschädigungen aus Mitteln des jeweiligen Bischöflichen Stuhls zu leisten.
Dieser Skandal wird kein Ende haben, wenn neben aller Aufklärungsarbeit nicht auch über das System Kirche nachgedacht wird. Der jetzt begonnene „Synodale Weg“ ist eine Chance.
Zuletzt geändert am 14.11.2019