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Veröffentlicht am 07­.02.2022

7.2.2022 - jungewelt.de

»Deutlich machen, wie nah die Kirche am Abgrund steht«

Sexualisierte Gewalt im Klerus. Reformbewegung wirft Expapst systematische Vertuschung vor. Ein Gespräch mit Christian Weisner
Interview: Kristian Stemmler

Seit Jahren beschäftigt das Thema sexualisierte Gewalt die katholische Kirche. Die Autoren des zweiten Missbrauchsgutachtens im Auftrag des Erzbistums München und Freising sprachen nun von einer »Bilanz des Schreckens«. Hat Sie das überrascht?

Nein, denn schon die 2010 veröffentlichte Zusammenfassung des ersten Münchner Gutachtens war erschütternd: keine ordentliche Führung der Personalakten, verharmlosende Sprachregelungen von Verbrechen, Täter wurden einfach nur versetzt, ohne die neue Gemeinde zu warnen. Schon seit 1995, seit dem Missbrauchsskandal um den Wiener Kardinal Hermann Groër, setzt sich »Wir sind Kirche« für die Aufdeckung ein.

Wo ist der Aufklärungswille, von dem Verantwortliche immer wieder sprechen?

In Deutschland haben erst die 2010 bekanntgewordenen früheren Missbrauchsfälle an der Berliner Jesuitenschule Bischöfe und Öffentlichkeit aufgeschreckt. Aber es hat bis 2018 gedauert, bis die von den Bischöfen in Auftrag gegebene deutschlandweite Missbrauchsstudie das Ausmaß der Skandale seit 1945 ans Licht brachte. Da ist die Münchner Studie nur ein Mosaikstein, viele Bistümer haben noch gar keine Studie. Und in Köln hat Kardinal Rainer Maria Woelki mit seinem Kommunikationsverhalten ein Desaster angerichtet. Viele sehen den »Synodalen Weg«, den die Bischöfe mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken und vielen guten Theologen versuchen, als wohl letzte Chance, die Ursachen des Missbrauchs zu beheben und den Glaubwürdigkeitsverlust der katholischen Kirche einzudämmen.

Der emeritierte Papst Benedikt XVI. alias Joseph Ratzinger musste unwahre Angaben einräumen. Wie bewerten Sie Ratzingers Verhalten?

Seine widersprüchlichen Aussagen und vor allem sein verweigertes Schuldeingeständnis haben seiner Glaubwürdigkeit als Mensch und seinem Ruf als Theologe sehr geschadet. Und später hat er als Chef der Glaubenskongregation in Rom die Straftaten in diesem Bereich weltweit unter das »päpstliche Geheimnis« gestellt. Man kann das auch systematische Vertuschung und Strafvereitelung nennen. Erst 2010 hat Ratzinger die Zusammenarbeit mit Strafverfolgungsbehörden zugelassen. Und erst Papst Franziskus hat das »päpstliche Geheimnis« aufgehoben.

Und wie ordnen Sie das Verhalten des Münchner Kardinals Reinhard Marx ein?

Kardinal Marx hat nach eigenen Aussagen einen Lernprozess durchgemacht, aber das ist auch dringend nötig. Da Papst Franziskus sein Rücktrittsgesuch 2021 nicht angenommen hat, sollte er jetzt alle seine Kraft dafür einsetzen, sich für die jahrzehntelang verschleppten Reformen in unserer Kirche stark zu machen. Aber nicht nur mit Worten wie jetzt zur Aufhebung des Pflichtzölibats, sondern auch als Botschafter in Rom, der deutlich machen sollte, wie nah die Kirche am Abgrund steht.

Die große Zahl von Fällen sexualisierter Gewalt in der Kirche wird oft mit ihrem Verhältnis zur Sexualität, mit ihrer Ablehnung von Homosexualität und mit dem Zölibat in Verbindung gebracht.

Zwischen Homosexualität und Missbrauch, der in der katholischen Kirche besonders Jungen und männliche Jugendliche betrifft, besteht kein kausaler Zusammenhang. Aber die Tabuisierung von Sexualität und besonders Homosexualität hat zu problematischen Persönlichkeiten geführt. Männerbünde haben die Vertuschung von Missbrauchstaten erleichtert. Insofern ist die jüngste Coming-out-Aktion kirchlicher Mitarbeitenden »Out in Church«, die auch von »Wir sind Kirche« unterstützt wird, ein neues Hoffnungszeichen.

Wie kann die von Ihrer Bewegung geforderte grundlegende Erneuerung der Kirche aussehen?

Wir müssen von einer Zwei-Klassen-Kirche – die einen sind die Geweihten, die anderen haben zu glauben und zu gehorchen – wieder zu einer kirchlichen Gemeinschaft auf Augenhöhe werden. Natürlich braucht es auch Leitung, aber keine absolutistische und nicht nur durch Weihe, sondern nach Kompetenzen. Und die kirchliche Lehre muss sich in der Frauenfrage und Sexuallehre ändern, damit sie den Erkenntnissen der Wissenschaft und vor allem den allgemeingültigen Menschenrechten entspricht.

https://www.jungewelt.de/artikel/420002.katholizismus-deutlich-machen-wie-nah-die-kirche-am-abgrund-steht.html

Zuletzt geändert am 07­.02.2022