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Veröffentlicht am 12­.01.2023

12.1.2023 - watson.de

Papst Benedikt: Mit seinem Tod erwacht der Streit – wo der Staat beim Thema Missbrauch versagt

Anne-Kathrin Hamilton

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"Sexualisierte Gewalt galt nicht als Verbrechen", erklärt Christian Weisner im Gespräch mit watson. Er war er Mitinitiator des Kirchenvolksbegehrens "Wir sind Kirche" in Deutschland, das 1995 in Österreich nach dem Missbrauchsskandal um den Wiener Kardinal Hans-Hermann Groër entstand. Weisner gehört auch zu den Mitgründern von "Wir sind Kirche International" 1996 in Rom. Ziel dieser weltweit vernetzten Reformbewegung ist es, die römisch-katholische Kirche zu erneuern.

Ein wichtiges Thema ist hier vor allem die sexualisierte Gewalt in der Kirche. Denn offenbar halten manche in der Kirche noch immer an veralteten Auffassungen fest. Weisner sagt dazu:

"Sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen wurde in früheren Jahrzehnten in der Gesellschaft und – was besonders skandalös ist – auch in den Kirchen nicht als schwerwiegendes Problem wahrgenommen."
Laut Weisner nahmen die Menschen damals an, dass die Erfahrung eines sexuellen Missbrauchs in der Regel schnell verarbeitet werde. Die lebenslangen Auswirkungen auf die Betroffenen seien nicht im Blick gewesen.

Das Gesicht der Kirche wahren – mit allen Mitteln

Auch war offenbar das Ansehen der Kirche wichtiger, als der Schutz der Kinder und Jugendlichen. "Sexuelle Angelegenheiten wurden in der Regel wie ein striktes Beichtgeheimnis betrachtet, das in keinem Fall gebrochen werden darf", sagt der Kirchenreformer. Der Männerbund zwischen den ehelosen Priestern und Bischöfen in der römisch-katholischen Kirche ermöglicht bis heute, dass sie einander decken.

Aufgrund des Zölibats verpflichten sich katholische Priester zu einem Leben ohne Ehe und damit auch zu sexueller Enthaltsamkeit. Weisner erklärt, dass die Kirche keinesfalls durchsickern lassen wollte, dass Priester eben nicht abstinent, sondern auch übergriffig und gewalttätig sein können. Er sagt dazu:

"Das Ansehen der Institution der Kirche, die sich offiziell als 'societas perfecta', vollkommene Gemeinschaft, versteht, ist höher zu werten, als die Vermeidung künftiger Verbrechen. Deshalb begnügen sich die Kirchen oft mit Ermahnungen und Versetzungen, teilweise auch ins Ausland."

Zudem versuche die Kirche, Anzeigen bei den staatlichen Strafverfolgungsbehörden zu vermeiden. Manchmal werden Schweigegelder an die Betroffenen gezahlt, sagt Weisner. Denn jeder aufgedeckte Vertuschungsversuch der Kirche schade immens ihrem Ruf. Insbesondere dann, wenn etwa durch Versetzungen Beihilfe geleistet wurde – wie bei dem Fall des verstorbenen Papstes Benedikt XVI.

Missbrauchsgutachten: Schwere Vorwürfe gegen Papst Benedikt

Bevor er Papst wurde, war Kardinal Joseph Ratzinger von 1977 bis 1982 Münchner Erzbischof. Unter seiner Obhut sind in dieser Zeit insgesamt vier Missbrauchstäter wieder in der Seelsorge eingesetzt worden. Der prominenteste Fall laut Weisner ist der aus Essen versetzte Priester H. Er wurde entgegen dem Rat des Therapeuten wieder im Gemeindedienst tätig.

Das zweite Münchner Missbrauchsgutachten im Januar 2022 hat dargelegt, dass dies mit Wissen von Joseph Ratzinger geschehen sein muss. "Doch er hat seine damalige Mitverantwortung durch irritierende Äußerungen und mithilfe teurer Anwälte infrage gestellt", meint Weisner. Das habe Ratzingers Ruf als "Mitarbeiter der Wahrheit", sein Bischofsspruch, am Ende seines Lebens außerordentlich geschadet.

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Das Versagen des Staates bei kirchlichen Verbrechen

Laut Weisner versagt der Staat oftmals als Aufsichtsbehörde, weil den kirchlichen Einrichtungen zu viel Vertrauensvorschuss entgegengebracht wird. Das haben staatliche Untersuchungsberichte, wie etwa in Irland und Australien aufgezeigt. "Bisher wurden die kirchlichen Ansprüche auf eine gerichtliche Selbstverwaltung naiv respektiert", sagt der Experte.

Mittlerweile sehe er aber einen Wandel in der Politik. So wurden etwa die Verjährungsfristen verlängert beziehungsweise aufgehoben. Auch die Stelle des unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Missbrauchs (UBSKM) bei der Bundesregierung habe viel zur Bewusstseinsänderung beigetragen und die Kirchen in die Pflicht genommen. Aber es müsse noch mehr geschehen, meint Weisner. Er sagt:

"Man ist davon ausgegangen, dass die Kirche die Vergehen innerhalb des eigenen Kirchenrechts regeln konnte und keine Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden notwendig ist. Doch diese Auffassung ist falsch."

Im Jahr 2001 wurden alle Missbrauchsfälle weltweit bei Strafe der Exkommunikation, sprich Ausschluss aus der Kirche, unter das sogenannte "päpstliche Geheimnis" gestellt und mussten der Glaubenskongregation im Vatikan übergeben werden.

"Die Glaubenskongregation, die für die Lehre der Kirche zuständig ist und damals unter der Leitung von Kardinal Joseph Ratzinger stand, war fachlich, wie organisatorisch völlig überfordert", sagt Weisner. Was vorgeblich die Verfolgung der Täter effizienter machen sollte, diente letztlich eher der Vertuschung.

Die katholische Kirche sei durch die sexualisierte und auch geistliche Gewalt durch Kleriker in die wohl schwerste Krise seit der Reformation geraten, meint der Experte. "Letztlich bedarf es nicht nur struktureller Reformen, sondern einer Änderung des Priesterbildes und des christlichen Menschenbildes", meint Weisner.

https://politik.watson.de/international/analyse/500184853-papst-benedikt-die-kirche-und-kindesmissbrauch-wo-der-staat-versagt

Zuletzt geändert am 12­.01.2023