13.9.2007 - Süddeutsche Zeitung
Missbrauch im Bistum Regensburg. Bischof in Bedrängnis
Was passiert, wenn ein Kirchenmann nur auf sich selbst hört? Bisher hatte der Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller bei Gläubigen vor allem Frust verbreitet – nun aber erweist sich seine Amtsführung als verhängnisvoll. Entgegen den Leitlinien der Bischofskonferenz vertraute er einem Pfarrer eine Gemeinde in der Oberpfalz an, der wegen sexueller Übergriffe vorbestraft war. Der Mann wurde rückfällig.
Von Matthias Drobinski
Er hat die Teilnahme an der europäischen ökumenischen Versammlung im rumänischen Sibiu abgesagt und die Vorstellung seines Buches über die Theologie Papst Benedikts verschoben, er hat erklärt und erklären lassen, dass das Bistum den Opfern helfen werde. Zeichen, die sagen sollen: Gerhard Ludwig Müller, den Regensburger Bischof, trifft der Fall bis ins Mark. Einer seiner Pfarrer ist verhaftet worden, weil er mindestens einen Ministranten über Jahre hinweg sexuell missbraucht haben soll. Das allein ist schlimm genug. Doch dass der Geistliche im Jahr 2000 wegen des gleichen Delikts zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde und dann drei Jahre später wieder in eine Gemeinde kam, bringt einen der umstrittensten Bischöfe Deutschlands in arge Bedrängnis.
Sicher ist der Fall kompliziert: Der Pfarrer hatte die Bewährungszeit ohne Rückfall überstanden, ein Gutachten kam zu der Auffassung, dass der Mann nicht fixiert pädophil sei und dass keine Gefahr mehr von ihm ausgehe. Aber Gutachter können irren, und deshalb legen die Leitlinien der deutschen Bischofskonferenz über den Umgang mit sexuellem Missbrauch fest: Geistliche werden „nach Verbüßung ihrer Strafe nicht mehr in Bereichen eingesetzt, die sie mit Kindern und Jugendlichen in Verbindung bringen”. Informiert wurde in der betroffenen Gemeinde niemand. Und schon vor zwei Jahren gab es einen Verstoß gegen die Leitlinien, als bei einem Missbrauchsfall in Falkenberg der Gang zum Staatsanwalt unterblieb. So drängt sich die Frage auf, ob Bischof und Bistumsleitung im Bestreben, immer und überall nur ihre persönlichen Maßstäbe gelten zu lassen, nicht einen fürchterlichen Fehler begangen haben. Denn kein anderer Bischof in Deutschland leitet sein Bistum so sehr im Bewusstsein, unmittelbar vor dem lieben Gott die maßgebliche Instanz zu sein; Kritiker werfen Müller eine übersteigerte Amtstheologie vor. Wer den Bischof kritisiert, wendet sich nicht einfach gegen eine bestimmte Politik – er stellt in des Bischofs Augen das Amt und damit die ganze katholische Kirche infrage.
Dieses Verständnis hat seit Müllers Amtsantritt im November 2002 zu einer Vielzahl von Konflikten geführt, die nirgendwo sonst in dieser Schärfe und Skurrilität ausgefochten werden. Müller setzte den Deggendorfer Dekanatsrat Johannes Grabmeier ab; der päpstliche Nuntius in Berlin musste die Affäre beenden. Manchmal wird es lächerlich, zum Beispiel, wenn ein Dekret im Amtsblatt verbieten möchte, bei innerkirchlichen Streitigkeiten weltliche Gerichte anzurufen. Wenn es aber um die Zwangsversetzung oder Maßregelung unbotmäßiger Pfarrer geht, regiert oft die Angst im Bistum. Denn häufig geht es nicht nur um die Sache, sondern auch um die handelnden Personen. So auch bei der bundesweit bislang bedeutsamsten Auseinandersetzung um die Laienvertretung im Bistum: Fritz Wallner, der Diözesanratsvorsitzende, war dem Bischof zu wenig auf Linie – kurzerhand ersetzte er das bisherige Gremium durch zwei neue und ließ sich vom damaligen Leiter der Kleruskongregation, Kardinal Hoyos, bestätigen, dass dies vorbildlich für ganz Deutschland sei.
Nur: Von den deutschen Bischöfen, ob konservativ, ob liberal, ist ihm da niemand gefolgt; im Gegenteil, sie haben erklärt, dass sie die gegenwärtigen Strukturen der Laienvertretung für richtig halten. Überhaupt hat sich Müller durch die zahlreichen Konflikte zum Außenseiter unter den Bischöfen gemacht; die Frage, ob Müller, der einmal als hoffnungsvolles Talent galt, noch Erzbischof von München werden kann, gilt den meisten Beobachtern jetzt als mit nein beantwortet.
Eine Meute von Feinden
Viele Bischöfe verdrehen regelrecht die Augen, wenn die Rede auf den Amtsbruder aus Regensburg kommt. Andere rätseln, wieso der Zwei-Meter-Mann, der am 31. Dezember 60 wird, so unterschiedliche Gesichter haben kann: Auf der einen Seite ist er der weltweit anerkannte Theologe, befreundet mit dem Befreiungstheologen Gustavo Gutierrez. Er dient in Peru als Aushilfspfarrer, er kann ausgesprochen hilfsbereit und charmant sein. Auf der anderen Seite treibt ihn das Gefühl, von den Medien und innerkirchlichen Kritikern verfolgt zu sein und sein Kirchenbild gegen eine Meute von Feinden verteidigen zu müssen – bis hin zur Beratungsresistenz.
Wenn es um die Kirchenverwaltung geht, mag das frustrierend für die Katholiken im Bistum sein; wenn es aber um sexuellen Missbrauch geht, wird es gefährlich. Wie unprofessionell das für die katholische Kirche hochheikle Thema in Regensburg behandelt wird, zeigt sich gerade am Fall des Pfarrers K. aus Riekofen. Die Bischöfe beschlossen 2002, in jedem Bistum einen Arbeitsstab aus Kirchenleuten, Psychologen, Ärzten zu bilden – es gibt ihn auch in Regensburg, aber das Gremium hat noch nie gemeinsam getagt. Am Dienstagabend trat die Ordinariatskonferenz zusammen; der Missbrauchs-Fall wurde noch nicht einmal angesprochen. Und der Gutachter, der dem Priester die Ungefährlichkeit bescheinigt hat und auf den das Bistum immer wieder verweist, ist – der Therapeut des Mannes. Eine unabhängige Meinung holte das Bistum nicht ein.
Von Rudolf Neumaier
Einer der beiden Beichtstühle der Pfarrkirche St. Johannes in Riekofen ist umfunktioniert zu einer Abstellkammer für Gerümpel. Eine Baumschere, eine kleine Staffelei – allerlei Gartengerät ist deponiert. Die Beichten muss Pfarrer Peter K. in dem anderen Beichtstuhl abgenommen haben. Wenn zum Beispiel die Kinder von Riekofen ihre Sünden bekennen mussten, um das Sakrament der Firmung zu empfangen. Pfarrer K. hörte sich aber nur die Buben an, berichtet ein Mitglied des Kirchenrates, für die Mädchen war ein anderer Priester zuständig. Ob K. jemals wieder beichtsitzen wird, wie es im Bairischen heißt, ist äußerst fraglich. Erst einmal sitzt der 39-Jährige in Untersuchungshaft, dann wird er auf einer Anklagebank Platz nehmen müssen. Wegen pädophiler Übergriffe auf Ministranten.
Diese seltsame Geschlechtertrennung bei der Beichte mag den katholischen Gläubigen in dem 800-Einwohner-Dorf Riekofen bei Regensburg etwas seltsam vorgekommen sein, anstößig fanden sie es aber nicht. Es fiel ihnen auch auf, dass der Pfarrer öfter mit den Jungen im Pfarrheim feierte. Nur mit den Buben – Mädchen waren unerwünscht. Und dass er in dem neuen Pfarrhaus – das sie ihm eigens hingestellt hatten, weil sie so froh darüber waren, überhaupt noch einen Pfarrer bekommen zu haben – auf gar keinen Fall eine Haushälterin haben wollte. Mein Gott, was sollte daran verwerflich sein, dachten die Riekofener. Aber da wussten sie noch nichts über die Vorgeschichte von K. Der Geistliche ist seit dem Jahr 2000 vorbestraft, weil er in Viechtach einen Buben sexuell missbraucht hatte. Als der Vater dieses Jungen erfuhr, dass K. wieder in einer Gemeinde tätig sei und wieder mit Kindern zu tun habe, schrieb er den Riekofenern, dass sie aufpassen sollen auf den Pfarrer – und auf ihre Kinder.
Ein Vater, nicht das Bischöfliche Ordinariat, informierte die Pfarrei. Bischof Gerhard Ludwig Müller hatte K. 2003 entgegen den Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz eingesetzt und den Riekofenern über Jahre hinweg verschwiegen, dass K. mit einer einjährigen Freiheitsstrafe auf Bewährung belangt war und, vor allem, warum. Den Dekan, den direkten Vorgesetzten des Dorfpfarrers, will er angewiesen haben, ein Auge auf den Kollegen zu werfen. Dass dieser Dekan durch eine Schulung sensibilisiert wurde, auffällige Verhaltensweisen des mutmaßlichen Päderasten zu erkennen und richtig zu deuten, ist aber unwahrscheinlich. Der unter anderem auf solche Fälle spezialisierte Psychologe des Bistums war mit einer solchen Unterweisung jedenfalls nicht betraut. Und als sich der alte Dekan zu Beginn des Jahres 2006 in den Ruhestand verabschiedete und ein anderer nachfolgte, erfuhr auch der neue nichts von K.s Geschichte.
Flugblatt an alle Haushalte
Für den Bischof war der Fall offenbar erledigt, weil ein Gutachter den Pfarrer für nicht grundsätzlich pädophil und seine abnorme Neigung für geheilt erklärt habe. Im Ordinariat sei K. dann seit 2003 zwölf Mal befragt worden, ob es zu Vorfällen gekommen sei, und der Priester habe stets verneint, beteuert Müller. In Riekofen fragte niemand aus dem Ordinariat nach dem Verhalten des Pfarrers.
Peter K. konnte sich ungehindert an seine Opfer heranmachen, was er offenbar auch tat. Bis sich der Vater aus Viechtach meldete und den Riekofenern das Verhalten des Geistlichen plötzlich suspekt war. Der Pfarrgemeinderat berichtet in einem Flugblatt, das an alle Haushalte der Pfarrei verteilt wurde: „Es gab zahlreiche Übergriffe von Peter K. auf unsere Ministranten.” Für die Vermutung, dass es sich um mehr als einen Fall handelt, spricht die Tatsache, dass die Vernehmungen der Justiz immer noch andauern. Ermittelt wird seit Mitte August, am 30. August wurde K. festgenommen. Die Staatsanwaltschaft hatte den starken Verdacht, dass sich der Geistliche absetzen wollte.
Seit der Festnahme von K. wartet die Pfarrgemeinde auf eine Entschuldigung des Bischofs. Am 1. September faxte dieser einen Brief an sie. Ein nigerianischer Aushilfspriester, der schwer verständlich Deutsch spricht, musste ihn in der Vorabendmesse vortragen. In Müllers Brief war von Betroffenheit und Wut die Rede. Entschuldigt hat er sich bislang nicht. An diesem Samstag empfängt er den Bürgermeister von Riekofen, acht Tage später kommt der Bischof in die Pfarrkirche St. Johannes. In Riekofen glauben nicht mehr viele, dass Gerhard Ludwig Müller einen Fehler eingestehen wird. Ein Kirchenfürst wie er bittet nicht um Absolution beim Volk.
Regelwerk zum Opferschutz
Fünf Jahre ist es her, da machte Verzweiflung die deutschen katholischen Bischöfe mutig. Wenige Wochen zuvor hatte ihr Vorsitzender, der Mainzer Kardinal Karl Lehmann, gesagt, Zustände wie in den USA gebe es nicht – und nun wurden zahlreiche Fälle von sexuellem Missbrauch durch Geistliche an Kindern und Jugendlichen bekannt. Ausgerechnet die Kirche stand als Lügnerin, Vertuscherin, Ignorantin da.
Nach dramatischen Debatten einigten sich die Bischöfe auf Leitlinien „zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche”: In jedem Bistum sollte es nun einen Beauftragten oder ein Gremium für die Untersuchung von Missbrauchsvorwürfen geben. Bei begründetem Verdacht soll die Staatsanwaltschaft eingeschaltet werden, Opfern und Angehörigen werden therapeutische Hilfen angeboten, die Öffentlichkeit wird informiert; verurteilte Täter werden nicht mehr dort eingesetzt, wo sie mit Kindern zu tun haben. Für diese Leitlinien erhielten die Bischöfe einiges Lob. Opferverbände allerdings kritisierten, dass Sexualstraftäter nicht generell aus dem Kirchendienst entlassen werden – die Bischöfe hielten dagegen, dass sie auch eine Verantwortung gegenüber den straffällig gewordenen Priestern hätten.
Als größtes Problem der Leitlinien allerdings entpuppte sich die mangelnde Verbindlichkeit. Sie sind Selbstverpflichtungen geblieben, und die Bischöfe kommen ihnen sehr unterschiedlich nach: Mal ist der Beauftragte nicht unabhängig, sondern ein Mitglied der Bistumsleitung. Mal fehlt auf der Internetseite der Diözese jeder Hinweis auf eine Telefonnummer, die Opfer wählen können. Mal werden Staatsanwaltschaft und Öffentlichkeit unterrichtet, mal nicht. Sexueller Missbrauch Minderjähriger kann überall vorkommen, wo Erwachsene mit Kindern zu tun haben. Doch wie sehr einem Opfer geholfen wird, wie konsequent gegen die Täter vorgegangen wird, wie transparent mit dem Fall umgegangen wird – das hängt in der katholischen Kirche vom Zufall ab. mad
Wie eine US-Diözese reagierte
Von Reymer Klüver
Es ist eine Tragödie ungeheuren Ausmaßes. Im Lauf der Jahrzehnte hat sie Tausende junger Menschen für ihr Leben gezeichnet und die katholische Kirche in Amerika moralisch und finanziell schwer getroffen: Nicht weniger als 2,3 Milliarden Dollar mussten Kirchengemeinden im vergangenen halben Jahrhundert quer durch die USA an Entschädigungen aufbringen, den Löwenanteil in den vergangenen fünf Jahren. Es waren Entschädigungszahlungen für die Opfer von Sextätern in der Soutane, für die Opfer von sexuellen Übergriffen in Schulen, Waisenhäusern und anderen Einrichtungen der Kirche.
Erst am vergangenen Wochenende willigte die Diözese von San Diego in die Zahlung von 198 Millionen Dollar an 144 Missbrauchsopfer ein. Das ist die zweithöchste Entschädigungssumme, die die Kirche in der Serie der Missbrauchsklagen in den Vereinigten Staaten zahlen musste, seit sich Ende der neunziger Jahre das ganze Ausmaß des Skandals abzeichnete. (Die höchste Summe muss die Erzdiözese Los Angeles aufbringen: 660 Millionen Dollar für 500 Betroffene.)
Damals wurde klar, dass es nicht vereinzelte Missbrauchsfälle waren. Und dass es ein Muster gab, mit dem die Kirche darauf reagierte: wegschauen und vertuschen. Pfarrer und Laienangestellte der Kirche hatten Kinder manchmal über Jahre missbraucht. Und die Oberen wussten in vielen Fällen davon, wie Dokumente etwa aus Los Angeles belegen. Die Täter wurden nicht bestraft, allenfalls versetzt und konnten so ihr Unwesen oft anderswo fortsetzen.
Auch in San Diego war es nicht anders. Und auch die Reaktion auf die Klagen verlief in den Bahnen, in denen andere Diözesen darauf reagiert hatten. Die Diözese meldete vorsichtshalber Konkurs an. Jahrelang wurden die Opfer hingehalten. Erst als eine Richterin Bischof Robert Brom im Sommer vorhielt, die wahren Besitzverhältnisse der Diözese zu verschleiern, willigte er widerstrebend in die Verdoppelung der bis dahin angebotenen 94 Millionen Dollar Entschädigung ein. Brom sprach davon, dass es nun an der Zeit sei, „die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren”.
Der Skandal hat die Diözese veranlasst, sich der Realität zu stellen. Seit 2003 gibt es einen Ethik-Code für ihre Pfarrer. Eine Kampagne gegen Sexualmissbrauch wurde gestartet. Es gibt Poster, die die „No-Go-Tell-Rule” propagieren, die überall in kirchlichen Einrichtungen aufgehängt wurden – Verhaltensregeln für Kinder und Jugendliche für den Fall, dass sie belästigt werden sollten: Nein sagen, so schnell wie möglich sich von dem Menschen entfernen, der ihnen nachstellt, und einer Person des Vertrauens alles sagen. Eine Liste von Beispielen für Übergriffe wurde ausgearbeitet. Die Namen bekannter geistlicher Sextäter wurden ins Internet gestellt.
Sie zeigt, wie lange die Männer ungestört blieben: ein Pfarrer von 1957 bis zum Jahr 2003. Immer wieder war er lediglich versetzt worden. Angesichts dieser Liste zeigt sich zum Beispiel der 46-jährige Michael Banks, der über Jahre von einem 2001 verstorbenen Monsignore missbraucht worden war, verbittert: „Sie wussten doch, was vor sich ging”, sagte er nun nach der Einigung über die Entschädigungszahlungen, „und das Einzige, worüber sie sich Sorgen machten, waren die Dollars, die sie zahlen sollten.”
Zuletzt geändert am 13.09.2007