15.9.2007 - Süddeutsche Zeitung,
Die Unfähigkeit zu lieben (Außenansicht)
Von Wunibald Müller
„Wir brauchen Ihren Rat“, sagte Joseph Ratzinger, damals noch Präfekt der Glaubenskongregation, bei einem Kongress von Medizinern und Psychologen zum Thema Sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche. Es war das Jahr 2003, die Horrorberichte aus den USA über immer neue Fälle von sexuellem Missbrauch von Minderjährigen durch Priester hatten gezeigt: Die Kirche muss sich ernsthafter als bisher mit den Risikofaktoren für sexuellen Missbrauch auseinandersetzen.
Warum muss sich die katholische Kirche immer wieder mit Sexualstraftätern aus den eigenen Reihen befassen? Vorwiegend sind es Männer, die Minderjährige sexuell missbrauchen (wobei 90 Prozent des Missbrauchs in einer Gesellschaft innerhalb der Familie, der Verwandtschaft geschieht). Unter den Tätern wiederum sind Homosexuelle. Damit ist freilich nicht gesagt, dass, wer homosexuell ist, zwangsläufig Kinder und Jugendliche missbraucht: Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Homosexualität und Pädophilie; pädophiles Verhalten ist unter Heterosexuellen häufiger als unter Homosexuellen. Unter den Priestern, die Minderjährige missbrauchen, ist nur eine kleine Gruppe tatsächlich pädophil veranlagt. Von Pädophilie spricht man, wenn sich jemand sexuell angezogen fühlt von Kindern vor der Pubertät. Die meisten Priester, die Minderjährige sexuell missbrauchen, sind jedoch ephebophil veranlagt; sie fühlen sich sexuell angezogen von 14- bis 17-jährigen Jugendlichen. Weiter ist zu bedenken, dass zahlreiche Priester und Ordensleute homosexuell sind. In den Vereinigten Staaten sprechen Untersuchungen von bis zu 30 Prozent; in Deutschland, Österreich oder der Schweiz dürfte der Anteil niedriger sein, aber deutlich über dem Durchschnitt von fünf Prozent der Gesamtbevölkerung liegen.
Nun sagt das noch nicht, dass homosexuelle Priester generell anfällig sind für ephebophiles Verhalten. Aber unter ihnen ist der Anteil sexuell unreifer Menschen überdurchschnittlich - und diese unreife Homosexualität macht anfällig für ephebophiles Verhalten. Viele schwule Priester haben die notwendige Auseinandersetzung mit ihrer Sexualität, die auch zu einer Annahme ihrer homosexuellen Veranlagung führen sollte, unterlassen. Diese Vermeidungshaltung dürfte durch eine nach wie vor vorhandene Tabuisierung von Homosexualität im kirchlichen Kontext wohl noch verstärkt werden.
Bei Priestern, die Minderjährige sexuell missbrauchen, fällt immer wieder die Unfähigkeit auf, innige und intime Beziehungen zu entwickeln. Wer intime Beziehungen aufbauen kann, lernt auch, die Grenzen und die Intimsphäre eines anderen respektieren und das eigene sexuelle Verlangen kontrollieren zu können. Eine verzerrte Vorstellung vom Zölibat kann diese Beziehungsunfähigkeit verstärken.
Kann ein Priester, der Minderjährige sexuell missbraucht hat, nach einer Therapie zurückkehren in den Kirchendienst? Die Frage ist durch die Regensburger Ereignisse wieder aktuell geworden. Die US-amerikanischen Bischöfe haben sich zu dem Modell der Nulltoleranz durchgerungen: Wer jemanden sexuell missbraucht hat, kann nie mehr als Seelsorger tätig sein. Es ist aber wohl sinnvoller, klar zu unterscheiden: Ein Priester, der eindeutig pädophil veranlagt ist und Kinder missbraucht hat, kann auch nach einer Therapie nicht in der Seelsorge eingesetzt werden. Er leidet an einer unheilbaren Krankheit; die Therapie kann höchstens dazu führen; dass er mit der Zeit seine sexuellen Impulse kontrollieren kann. Aber zum Seelsorger ist er grundsätzlich nicht geeignet. Er muss sein Fehlverhalten erkennen, Reue über sein Verhalten empfinden, seine Impulse kontrollieren lernen. Und dann eine Form finden, in der er seine priesterliche Identität leben kann.
Anders ist die Situation bei einem ephebophilen Priester, der, vielleicht weil er betrunken war oder sich in einer besonders schwierigen seelischen Verfassung befand, einen sexuellen Übergriff begangen hat. Der Schaden für das Opfer ist der gleiche - das gilt es immer zu sehen. Doch dies ist lediglich eine sexuelle Entwicklungsstörung. Sie kann therapeutisch so behandelt werden, dass auch seelsorgerliche Tätigkeiten möglich sind.
Die Jugendarbeit und die Arbeit mit Kindern muss allerdings ausgeschlossen bleiben. Und jeder Einsatz setzt voraus, dass das Umfeld informiert wird und die Priester weiterhin durch Supervision, geistliche Begleitung und Psychotherapie beobachtet und auch kontrolliert werden. Bei dieser Entscheidung können Gutachten durch ausgewiesene Fachleute von großer Hilfe sein. Allein, auch Gutachten sind keine Offenbarungen, und ihre Verfasser können sich irren. Sie entbinden nicht die Verantwortlichen, ihrer Verantwortung gerecht zu werden, und wo Zweifel bestehen, diese ernst zu nehmen.
Diese Vorgehensweise ist schwieriger zu handhaben als die Nulltoleranzlösung. Sie wird aber der Situation und den Priestern gerechter. Manchmal entsteht der Eindruck, dass es auch Bischöfe und Verantwortliche gibt, die es sich zu leicht machen, wenn sie den Priester, der Minderjährige sexuell missbraucht, einfach suspendieren und die Verantwortung für die betreffende Person von sich weisen. Diese Verantwortung wird dann im Grunde genommen der Gesellschaft überlassen. Hier muss man einen Weg finden, um einerseits Kinder und Jugendliche zu schützen und andererseits dem betroffenen Priester gerecht zu werden.
Im Konferenzsaal im Vatikan 2003 hing in der Mitte der Stirnwand ein großes Holzkreuz. Während der Diskussion schaute ich immer wieder auf dieses Kreuz. Geht es in dieser Debatte um Gott? Dann würden sich daraus radikale Konsequenzen für die katholische Kirche ergeben: Im Mittelpunkt steht die uneingeschränkte Solidarität mit den Opfern sexuellen Missbrauchs. Aber es kann auch die Barmherzigkeit gegenüber dem Täter geben, ohne seine Tat und Schuld zu beschönigen. Und es wäre auch eine Form der Prävention, wenn die katholische Kirche dem Einzelnen die Entscheidung freistellt, ob jemand als Priester ehelos lebt oder nicht, wenn sie Frauen zum Priesteramt zulässt.
„Wir brauchen Ihren Rat", sagte Joseph Ratzinger den Experten. Vor allem aber braucht die katholische Kirche Gottes Beistand, um erkennen zu können, was die große Krise, in die sie durch die Missbrauchsfälle geraten ist, an Veränderungen notwendig macht.
Zuletzt geändert am 20.09.2007