9.11.2008 - Dr. Peter Frey beim Bonifatiuswerk
"Offenheit, Gastfreundschaft, Veränderung - Chance für die Kirche"
Sehr geehrter Herr Kardinal,lieber Herr Präsident Meyer,verehrter Herr Vizepräsident, Herr Generalsekretär,meine Damen und Herren,liebe Schwestern und Brüder,haben Sie vielen Dank für die Einladung, heute die Festansprache zur Eröffnung der Diaspora-Aktion 2008 des Bonifatiuswerks hier in Berlin zu halten. Sie haben sich dafür einen Journalisten ausgesucht und keinen Prediger. Für mich war es eine Herausforderung, meine eigenen Erfahrungen in der sogenannten Diaspora zu reflektieren - also in einer Welt, in der die Katholiken oder die Christen in der Minderheit sind. Mir und meiner Familie ist die Kirche in Berlin offener begegnet als manch alteingesessene Gemeinde in urkatholischen Städten, die so verkrustet war, dass Fremde nur schwer Einlass fanden.
Auch wegen dieser Erfahrung habe ich auch drei Stichworte gewählt, die das Bild von Kirche umreißen, wie ich sie mir vorstelle. Ich will sprechen über eine Kirche der Offenheit, der Gastfreundschaft und der Bereitschaft zur Veränderung. Es ist eine Kirche, die sich nicht ausschließt, sondern einlädt. Die die Welt mitgestalten will und sich nicht in ihren spirituellen Elfenbeinturm zurückzieht. Die den Menschen, nicht zuletzt den Verfolgten und Bedrängten dient. Auch denen, die anderen Glaubens sind, und nicht die Augen vor dem verschließt, was außerhalb des eigenen Kirchhofs passiert. Die den Kontakt und die Auseinandersetzung mit anderen Christen und anderen Gläubigen sucht. Und die auch dadurch Anstoß für Menschen wird, die aus welchen Gründen auch immer den Kontakt zur Kirche nie gefunden, verloren oder abgebrochen haben. Dafür ist Berlin ganz und gar kein feindlicher Boden, sondern als Stadt der Neugier und des Neuen ein ideales Pflaster.
Übrigens ist die Kirche, von der ich sprechen will, keine Utopie. Es gibt sie, an vielen Stellen, schon heute. Ich erlebe sie, zusammen mit meiner Familie, mitten in Berlin, ausgerechnet in der Stadt, die doch den Ruf hat, nicht religiös zu sein. Und die aktuelle Bemerkung will ich mir doch an der Stelle erlauben: Bischöfe aus dem Süden des Landes sollten darüber nicht urteilen, vor allem wenn sie sich nicht in der Lage sehen, sich den Gemeinden in der eigenen Diözese zu stellen, in denen Kinder von einem Geistlichen sexuell belästigt wurden. Jeder kehre vor seiner eigenen Haustür. Für mich ist Berlin jedenfalls eine Stadt von bemerkenswerter, auch religiöser Intensität, wie man zuletzt übrigens in einem ergreifenden Gottesdienst am Reformationstag gleich in der Nachbarschaft im Berliner Dom erleben durfte. Dabei bot der Präses der EKD seinem Publikum eine echte Ermutigung mit seiner Meditation über das Lied "Vertraut den neuen Wegen", das anregt: "Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr uns weist, weil Leben heißt sich regen, weil Leben wandern heißt". Also, ein Lied, das uns auffordert, in die Zukunft zu sehen, zu gestalten und nicht zu verurteilen oder zu jammern.
Über ein anderes Lied will ich gleich sprechen, zunächst aber doch noch konkretisieren, wie ansteckend religiöses Leben auch mitten in dieser Stadt sein kann. Den Patres der St.-Ludwig-Gemeinde in Berlin-Wilmersdorf (und Sie, Herr Kardinal, haben St. Ludwig ja gerade mit den Erstkommunion-Kindern der Stadt besucht), den Franziskanern und ihrer Gemeinde gelingt es jedenfalls, ein Spannungsfeld in dieser Stadt zu schaffen, Menschen anzuziehen und einzubinden, die man nicht zwangsläufig sonntags in einer Katholischen Gemeinde erwarten würde, bunt und vielfältig wie das Leben - und offensichtlich fromm. Das imponiert mir. Und vielleicht sollte der Bischof aus dem Süden sich diese Gemeinde in der Großstadt einmal anschauen, bevor er weiter seine Urteile über die Hauptstadt fällt.
Dort, und es ist gewiss nicht nur dort, finden viele ihren Platz und Heimat. Nicht durch liturgische Kinkerlitzchen oder modische Traditionsbrüche. Im Gegenteil: es wird viel Wert auf eine, wenn ich das so sagen darf, gepflegte Liturgie gelegt, auf ein geschliffenes Wort, auf wirkliche Ansprache, mal mehr im Sinn theologischer Textauslegung, mal im Sinn pastoraler Begleitung, und übrigens auch auf die musikalische Gestaltung. Es gibt einen Dritte-Welt-Laden und eine Suppenküche. Einen Kindergarten, Jugendarbeit und Ausflüge für Senioren. Die Kirche lebt. Nicht für sich. Und das zieht an.
Sie haben der diesjährigen Aktion des Bonifatiuswerks die Überschrift "Werdet nicht müde, von IHM zu sprechen" gegeben - und eine Liedzeile zitiert, an die wir uns alle erinnern. Die Zeile stellt ja auch Fragen: Sind wir nicht schon müde? Sprechen wir überhaupt vom IHM und hören wir, wenn von IHM gesprochen wird? In dem schönen Lied "Singt dem Herrn alle Völker und Rassen" werden wir ja auch aufgefordert, neue Worte zu suchen, das Wort zu verkünden. Und, darüber hinaus, von seiner "verborgenen Gegenwart in allem, was lebt und geschieht" zu singen, zu sprechen und sie zu suchen.
Auch deshalb erlaube ich mir einen Ausflug in die aktuelle Pop-Kultur. Ich will niemanden für Glaubensdinge vereinnahmen und deshalb mit dem folgenden Zitat vorsichtig sein. Aber ich hoffe, dass auch in dieser Runde schon jemand von dem deutschen Rocksänger Herbert Grönemeyer gehört hat. Ich bin ein Fan von ihm und damit wahrlich nicht allein. In den letzten Jahren habe ich ihn ein paar Mal im Konzert erlebt, zuletzt dieses Jahr in Berlin auf der Waldbühne und bei der Eröffnung der O2-Arena. Von diesen Konzerten ist mir eine Melodie im Ohr hängengeblieben, zusammen mit ein paar Wortfetzen, die mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen sind. Und ich bemerkte, wie sie mich beschäftigen, wie sie mir immer wieder einfielen, übrigens gerade dann, wenn es einmal schwierig wurde - oder ich vor einer Aufgabe stand, von der ich nicht wusste, ob ich sie bewältigen kann.
Singen kann ich nicht. Aber erlauben Sie mir ein paar Zeilen aus dem Song "Land unter" zu zitieren: "der himmel heult / die see geht hoch / wellen wehren dich / stürzen mich von tal zu tal / die gewalten gegen mich / bist so ozeanweit entfernt / regen peitscht von vorn / und ist's auch sinnlos / soll's nicht sein / ich geb dich nie verloren / / geleite mich heim / raue endlosigkeit / bist zu lange fort / mach die feuer an / damit ich dich finden kann / steig zu mir an bord / übernimm die wacht / bring mich durch die nacht / rette mich im sturm / fass mich ganz fest an / dass ich mich halten kann / bring mich zum ende / lass mich nicht mehr los. (1)
Ich weiß nicht, ob Grönemeyer religiös ist und ob er ein religiöses Lied schreiben wollte. Aber was ich weiß ist, dass hier jemand von Sehnsucht singt, von der Suche nach Sicherheit und Geborgenheit, von der Hoffnung, bis am Ende nicht mehr losgelassen zu werden. Er benutzt uralte, biblische und menschliche Metaphern: den Sturm, das Schiff - den endlos-grauen Horizont. Je genauer ich hinhöre, vielleicht auch mit dem Herzen, desto mehr konnte ich diesen Song, den bei Grönemeyers Konzerten Zehntausende mitsingen, Wort für Wort, Zeile für Zeile, als Gebet, als Psalm aus unseren Tagen verstehen. Ein Schrei, der mir sagt: Es gibt eine Sehnsucht nach Glauben, nach Sicherheit, nach Vergewisserung - und Popsänger scheinen diese Sehnsucht heute besser ausdrücken zu können, in Worten und Musik, als die Kirche. Jedenfalls habe ich soviel Inbrunst wie bei "Land unter" im Grönemeyer-Konzert in der Kirche lange nicht erlebt.
Warum kann die Kirche auf diese Sehnsucht nach Glauben nur so unzulänglich antworten? Das ist wirklich eine schwierige Frage. Vielleicht die entscheidende. Wir sollten uns nicht vormachen, wir lebten in einer ungläubigen Welt, die von diesseitigen Menschen erfüllt ist, die kein Interesse an den letzten Fragen hätte. Nein, das ist definitiv nicht so. Was nicht zuletzt der Zulauf zu allen möglichen Sekten oder anderen Religionen zeigt - und auch der Erfolg von Ersatzreligionen, zu denen ich, wenn ich schon von Grönemeyer spreche, auch die Welt der Popmusik mit ihren bombastischen Inszenierungen zählen will. Es geht also bei der Kirche, die wir suchen müssen, nicht nur um die Kirche, die mit der Welt kommuniziert und sie mitgestaltet. So wichtig das ist und ich komme darauf noch zurück. Es geht zunächst einmal um das wesentliche Bedürfnis des Menschen, sich zu binden und zu verorten, in existenziellen Situationen nicht alleine zu sein, wenn Leben zusammengeführt wird oder sich trennt, wenn es um Partnerschaft, Kinder, Trennung und Tod, dieses jedem von uns doch vertraute Gefühl des "Bring mich durch die Nacht" geht.
Ich denke, wir sind zu wenig praktischer Rettungsanker in schwierigen Situationen. Wir sind zu sehr mit uns selbst beschäftigt, mit unseren Abläufen, unseren Ritualen, unseren Vorstellungen, wie das Leben sein soll, unserer Sprache. Wir verändern uns zu wenig. Wir geben zu wenig Antwort auf das Leben. Ist es nicht so, dass manche Gemeinde zu sehr um sich selbst dreht, was auf Neuankömmlinge nicht einladend wirkt. Dabei haben Kirchengemeinden enorme logistische Vorteile und Chancen: meist liegen sie mitten drin in Stadtvierteln, sie verfügen über Räumlichkeiten, Telefonnummern, Homepages und Personal. Sie könnten gerade in den Zeiten der Mobilität leicht Plattformen für gegenseitige Hilfe sein, wenn sie sich so verstehen - und, das ist entscheidend, wenn sie es wollen. Familien, die neu in einer fremden Stadt ankommen, müssen zuerst die naheliegenden Fragen lösen: Wer hilft mir, wenn mein Kind krank wird? Können wir uns gegenseitig beim Aufpassen abwechseln und unterstützen? Es geht um neue Netzwerke. Ein Sonntags-Café zwischen den Gottesdiensten könnte ein Anfang sein. Das geht auch ohne viel Geld und Hauptamtliche. Unser "Markt" ist groß - so viele Menschen müssen immer wieder neu anfangen, in neuen Jobs, neuen Städten, neuen Beziehungen und suchen "in der Fremde" Heimat. Wie man sie nutzt, beweisen in dieser Stadt übrigens auch die Gemeinden im Prenzlauer Berg, wo junge Familien mit ihren Kindern eine natürliche religiöse Musikalität entwicklen - auf die die Kirchen antworten. Es ist eine ungeheuere Chance für die Kirche, wenn man ertragen kann, dass sich Zwei- und Dreijährige im Gottesdienst auf ihre Weise artikulieren.
Natürlich gibt es sehr viel institutionalisierte Hilfe wie die Caritas. Man kann nur froh sein, dass die Kirchen diese Arbeit auch in den Jahren durchgehalten haben, als "jeder ist seines Glückes Schmied" zur allgemeinen Losung zu werden schien. Die Kirchen haben mit ihren Hilfswerken von misereor, Adveniat, Renovabis bis hin zum Bonifatiuswerk die Türen zur Welt offengehalten und der Globalisierung der Finanzen eine Globalisierung der Solidarität entgegengesetzt. Das funktioniert. Da sind wir stark. Darauf können wir auch stolz sein. Zumal wir Jahre hinter uns haben, in denen Werte anders buchstabiert wurden: von "Geiz ist geil" bis "Ich bin doch nicht blöd ". Gemeint war immer das Gegenteil von Solidarität. Es ging, koste es was es wolle, um den eigenen Vorteil. Deshalb ist die Gesellschaft auch so auseinander gefallen. Die Rufer nach Gerechtigkeit waren ziemlich in die Defensive geraten. Aber die Kirche stand, meistens jedenfalls.
Trotzdem kommt es mir so vor, als zögen wir uns immer mehr aufs eigen Spielfeld zurück, statt uns als Kraft zu begreifen, die die Stadt, die Welt in der wir leben, mitgestalten kann und - in der Nachfolge des Gottessohns, der doch auf die Welt gekommen ist - mitgestalten muss. Gott-sei-Dank gibt es nicht nur die kirchlichen Hilfswerke, es gibt auch viele andere Initiativen, wie die Malteser Migranten Medizin, die sich um Menschen ohne Krankenversicherung kümmert. Aber, ich sage das jetzt als Mann des Fernsehens und der Öffentlichkeit: Manchmal erscheinen mir auch die Bischöfe oder unsere Laiengremien zu müde von ihm zu sprechen - oder zu ängstlich und zu wenig selbstbewusst, eine Sprache zu sprechen, die die Welt - die da draußen - auch verstehen können. Manches Wort klingt so, als sollte es gar nicht verstanden werden, manche Erklärung ist so umständlich, dass man sich nicht wundern muss, wenn wenig davon in den Nachrichten oder Zeitungen landet. Unsere Sprache und unser Ausdruck sind zu oft zu wenig heutig.
Gewiss, es hat in dem Zwei-Päpste-Jahr 2005 und bei den letzten Weltjugendtreffen in Köln und Sydney Bilder gegeben, die wir nicht mehr vergessen und die auch der Welt draußen Ahnung davon gegeben hat, wieviel Kraft auch heute noch in uns steckt. Aber seine wirkliche Tatkraft bewirkt ein Glaube, der ja nicht für sich selbst da ist, im Alltag, ja den Pfarrgemeinden, in den Kommunen. Und auch im öffentlichen Gespräch, das heutzutage auch in Interviews im Morgenmagazin oder Auftritten in Talkshows stattfindet. Es ist ein Privileg und eine Chance, dort eingeladen zu sein. Mein Gefühl ist: Wir sehen zu wenig davon.
Ich meine jedenfalls, die Kirche muss ihren Beitrag leisten, auch in einer Welt, die sich wandelt - in der viele, die nicht zu Hause sind, den Boden unter den Füßen verlieren, und andere, die neu bei uns ankommen, nach sicherem Grund suchen. Gerade heute am 9. November haben wir allen Grund, uns selbstkritisch zu fragen, wie wir mit den Minderheiten von heute umgehen. Mit Zuwanderern, auch anderen Glaubens, mit Menschen, die ohne Papiere hier leben, mit HIV-Positiven und Homosexuellen. Finden diese Menschen selbstverständliche Heimat in der Kirche - und zwar nicht nur im Sinn seelsorglicher Betreuung, sondern als selbstverständlich geachtete Mitglieder, die auch ihren Beitrag leisten können.
Wir müssen uns öffnen, Das ist schwer, gerade wenn das Milieu schrumpft und man dem natürlichen Impuls folgt, sich mehr auf sich selbst zu beziehen. Aber wir müssen die Weichen umstellen, nicht nur in der Kirche, auch in unserer ganzen Gesellschaft. Dazu gehört, ehrlich anzuerkennen, dass es für uns in Deutschland besonders schwierig ist, zu bejahen, dass in der Vielfalt eine Chance liegt. Politiker reden vernebelnd vom "Intregrationsland Deutschland", weil sie sich immer noch nicht trauen anzuerkennen, dass wir längst ein Einwanderungsland geworden sind - und übrigens: Wenn wir das früher anerkannt und gestaltet hätten, früher mit Integrationsmaßnahmen wie Spracherziehung und der Vermittlung von historischem Wissen über Deutschland begonnen hätten, statt polemisch über die multikulturelle Gesellschaft zu sprechen, dann wären wir heute weiter.
Wir müssen anerkennen, dass es heute schon viele verschiedene Formen gibt, deutsch zu sein. Wer hier in der dritten Generation aufgewachsen und in die Schule gegangen ist, der ist trotz seines türkischen Hintergrunds und seines muslimischen Glaubens Deutscher. Gott-sei-Dank gibt es nicht nur Geschichten vom Scheitern. Die etwa 40.000 türkischstämmigen Studentinnen und Studenten an deutschen Hochschulen sind, jeder und jede für sich, Geschichten von Erfolg und auch vom Ehrgeiz, hier anzukommen. Aber es ist erschütternd zu hören, dass auch bei den Erfolgreichen sich viele hier einfach nicht zu Hause fühlen. Warum sie in Deutschland noch keine Heimat gefunden haben, das ist freilich mindestens so sehr unser wie ihr Problem. Wir kommen nicht darum herum, Buntheit als Chance zu verstehen und daran zu arbeiten, dass unsere Gesellschaft sich ändert. Solche Prozesse dauern, oft Jahrzehnte. In der Tat ist erst mit der Wahl von Barack Obama die US-Bürgerrechtsbewegung zu ihrem entscheidenden Durchbruch gekommen. In Deutschland gibt es mehr als 40 Jahre nach Ankunft der ersten "Gastarbeiter" immer noch keinen Minister mit Migrationshintergrund. Es mag damit zusammenhängen, dass wir in den 90er Jahren, im Jahrzehnt der Vereinigung zu sehr mit uns selbst beschäftigt waren. Aber es wird höchste Zeit, eine innere Bereitschaft zur Vielfalt zu entwickeln - und Vielfalt als Reichtum und nicht als Bedrohung zu sehen.
Und wir müssen bereit sein, uns zu verändern. Die Kirche ist nicht mehr die mächtige, gesellschaftsprägende Institution wie in den 50er und 60er Jahren. Wir haben Boden verloren - und das verführerische an den Fernsehbildern von den Päpsten ist, das nicht wahr haben zu wollen oder zu verdrängen. Wir brauchen neue Formen des innerkirchlichen Dialogs, der Entscheidungen - und des Gesprächs mit der Gesellschaft. Wir drehen uns zu oft nur noch um uns selbst und begreifen nicht, dass die Gesellschaft das nicht mehr wahrnimmt.
Wenn wir die Welt aus unterschiedlichen Ecken betrachten können, gelingt es uns vielleicht, sie zu begreifen und zu lernen, wie wir mit unserer schwierigen Existenz umgehen. Bindung an Wurzeln, die eigenen Grenzen kennen, die Welt mit Demut sehen, Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden - mit so einer Achse kommt man ganz gut durch Leben. Lasst uns den christlichen Glauben nie als überlegen und ausschließend empfinden, dafür wurden im Namen des Christentums auch zu viele Fehler gemacht. Lasst uns Angehörigen anderer Konfessionen und Religionen, den Muslimen, und man muss das am heutigen Tag sagen: besonders den Juden mit Respekt und ohne jedes Überlegenheitsgefühl begegnen. Ich bin Johannes Paul ll. für sein Wort von den Juden als "ältere Brüder" dankbar. Wir teilen mit ihnen viel mehr als uns trennt: den Glauben an den Einen Gott, das Alte Testament, die zehn Gebote, die Psalmen und jenes wunderbare Abendmahl, das uns daran erinnert, dass wir immer wieder aus unserer Gefangenschaft ausziehen können. Die Kirche hat eine besondere Verpflichtung, jeder Form von Antisemitismus zu widerstehen - und vor allem dem, der aus christlichem Überlegenheits- oder Schuldgefühl her rührt. Wir haben diese Versuchung in den Genen, wir müssen ihr aktiv widerstehen.
Eine besondere Verantwortung haben wir als Eltern. Mit dem Glauben ist es wie mit einer Sprache. Man lernt sie am leichtesten, wenn man von jung an mit ihr aufwächst und sich in ihr zu bewegen lernt. Man lernt durchs Vorbild - und dieses Vorbild müssen wir sein, in Demut, Bescheidenheit und ohne falsche Zwänge. Wir müssen als Eltern und als Kirche lernen, dass zum Erwachsenen-Werden, nicht nur in der Familie, auch Rebellion, Fragen und Zweifel gehören. Sie können ein konstruktiver Beitrag sein, der uns voranbringt. Nichts ist schlimmer als stummer Protest. Diese Menschen fehlen uns nämlich dann einfach. Alles hat seine Zeit. Auch der Widerspruch. Ich denke, es gehört zu den glücklichsten Erfahrungen von Eltern, wenn sie erleben dürfen, dass ihr Vorbild glaubwürdig war.
Virulent, wirksam, Salz der Erde und ein Feuer, an dem man sich orientieren kann, sind wir nur, wenn nicht nur wir selbst, sondern wenn auch die anderen uns spüren. Diejenigen, die jemanden suchen, der sie an Bord nimmt und durch die Stürme des Lebens heimbringt. Auch diejenigen, deren Mast schon gebrochen ist und die kurz vorm Untergehen sind. Ich finde, der Prophet Grönemeyer hat gesungen, was wir uns alle im innersten wünschen: "Bring mich zu Ende, lass mich nicht mehr los". Wir können unseren Beitrag dazu leisten.
(1) "Land unter", zitiert nach der Fanpage von Herbert Grönemeyer
Zuletzt geändert am 11.11.2008