29.4.2010 - Süddeutsche Zeitung
Das unselige Handeln nach Kirchenraison
Von Ernst-Wolfgang Böckenförde
Es ist an der Zeit, die Kirche nicht nur zu kritisieren, sondern ihr zu helfen. Ihr droht, von der Gesellschaft verlassen, als Autorität beiseite gestellt zu werden. Wie kann sie aus dem Dunkel, der Heimsuchung, in die sie gefallen ist, den Weg zum Licht finden?
Die Kirche hat, nach längerem Zögern, den entscheidenden ersten Schritt getan. Maßgebliche Vertreter haben eingeräumt, dass Missbrauchsfällen, die bekannt oder vermutet wurden, lange Zeit nicht in der gebotenen Weise nachgegangen wurde, auch im Hinblick auf die zu ziehenden Konsequenzen. Sehr deutlich hat es Bischof Stefan Ackermann von Trier formuliert, der Missbrauchsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz: „Wo kein wirklicher Aufklärungswille vorhanden war und Täter einfach nur versetzt wurden, müssen wir in einer ganzen Reihe von Fällen gestehen, dass vertuscht worden ist.” Dies war über Jahrzehnte die überwiegende Praxis.
Davon hat sich die Kirche nun losgesagt, im Ansatz schon in den Richtlinien der Deutschen Bischofskonferenz von 2002, jetzt erneut und mit stärkerer Konsequenz. Man will – und es gibt bislang keinen Grund, dies in Zweifel zu ziehen – einen Neuanfang, wie Erzbischof Zollitsch sagt.
Wie kann und müsste ein solcher Neuanfang aussehen? Wichtig ist, nicht nur an Symptomen anzusetzen, wie unterbliebener Einschaltung der Staatsanwaltschaft, sondern den tragenden Grund zu erkennen, der in die gegenwärtige Krise hereingeführt hat. Dieser Grund ist nicht eine fehlende oder zu wenig entschiedene Verurteilung sexuellen Missbrauchs und exzessiver Gewalt durch Priester. An solcher Verurteilung hat es auch in der Vergangenheit nie gemangelt; die Worte, die Papst Benedikt vor Jahren in den USA und jetzt in seinem Brief an die irischen Katholiken gebraucht hat, könnten schärfer kaum sein.
Der eigentliche Grund – die Wurzel für die jetzt zutage getretene Krise und der Skandal – liegt im steten und bei hohen Amtsträgern tief verwurzelten Handeln nach Kirchenraison. Das Wohl und Ansehen der Kirche steht über allem. Was meint das? So schlimm, schwer sündhaft und auch verbrecherisch ein Verhalten von Priestern sein mag – mit ihm ist stets so umzugehen, dass das Ansehen der Kirche, ihre „Heiligkeit” und die Erfüllung ihres Auftrags im Interesse der Gläubigen dadurch keinen Schaden nimmt. Eben diese Maxime erklärt und bedingt die über Jahrzehnte geübten Verhaltensweisen: Geheimhaltung solange wie möglich, eventuell mit Geheimhaltungsversprechen, nur interne (Maß-)Regelung, die nicht öffentlich bekannt wird, nur Versetzung statt (öffentlicher) Entfernung aus dem priesterlichen Dienst, keine Information der zuständigen Stelle des neuen Wirkungskreises. Das eine zieht das andere nach sich, insgesamt ein Zudecken oder Vertuschen der relevanten Vorgänge.
Dies konnte weithin ohne schlechtes Gewissen geschehen. Denn es geht ja um mehr als um die Abschottungstendenz, die Organisationen stets eigen ist. Es geht um die Wahrung des Ansehens und der Glaubwürdigkeit der Kirche als Voraussetzung für die Erfüllung ihres Auftrages, die anvertrauten Gläubigen zum Heil zu führen. Die Opfer des Missbrauchs treten dabei wie von selbst in den Hintergrund. Denn Ansehen und Glaubwürdigkeit der Kirche schützen, heißt nach diesem Verständnis: die Kleruskirche schützen, also die Kirche der Priester und Amtsträger. Die Opfer, die ebenso Glieder des pilgernden Volkes Gottes sind und des Schutzes der Kirche zuvorderst bedürftig, geraten für diese Art Kirchenraison aus dem Blick, verlieren jede zentrale Bedeutung.
Es genügt nicht, solches Handeln nach Kirchenraison nun als Fehler einzugestehen. Die Dominanz der Kirchenraison im eigenen Verhalten muss als Sünde und Schuld bekannt werden, nicht nur einzelner Personen, sondern auch der Kirche selbst, als strukturelle Sünde und Schuld. Nur dann kann eine wirkliche Umkehr gelingen. Man muss sich das Unfassbare des sexuellen Missbrauchs gerade durch Priester vor Augen führen, um die maßlose Enttäuschung bei den Gläubigen und das traumatische Verstörtsein bei den Opfern zu begreifen. Der katholische Priester handelt sakramental in persona Christi, wie es theologisch heißt, an seiner Statt. Von einer in dieser Weise als Gesandter des Herrn geweihten Person geht sexueller Missbrauch, schwerste Persönlichkeitsverletzung aus. Muss das nicht jedem, der in und mit der Kirche lebt, die Zornesröte ins Gesicht treiben? Erst aus der Einsicht in die hier obwaltende, auch strukturelle Sünde und Schuld, die vom Handeln einzelner nach Kirchenraison in das Handeln der Institution übergeht, kann ein wirklicher Neuanfang gelingen.
Solche Einsicht bewirkt ein Abschiednehmen von gewissen Heiligkeitsvorstellungen in Bezug auf die Kirche, die als Kirche der Sünder doch allererst durch Gottes Barmherzigkeit geheiligt werden kann. Solche Einsicht bringt eine Haltung der Demut und Bußfertigkeit hervor, bestärkt den Willen zu voller Aufklärung und, soweit möglich, Wiedergutmachung nicht nur gegenüber den Opfern, sondern auch gegenüber sich selbst.
Sexueller Missbrauch und exzessive Gewalt durch Priester, aber auch die Krisensituation der Kirche insgesamt, werfen weitere Fragen und Probleme auf. Dazu gehören der angemessene Umgang mit Pädophilie, nachdem sie als Krankheit erkannt ist, auf dem Weg zum oder im Priesteramt, die Herausforderungen und Gefährdungen der zölibatären Lebensform der Priester (als Pflicht- oder Wahlzölibat), das reformbereite Nachdenken über eine neue Art der Amtsstruktur in der Kirche und der lehramtlichen Verkündigung der christlichen Heilsbotschaft als Ermutigung und Hilfe für die Gläubigen, nicht zuletzt im Bereich der Sexualmoral, die derzeit auch und gerade bei den aktiv Glaubenden nahezu voll ins Leere läuft. Sie alle lassen sich von einer solchen Haltung der Wende im Inneren aus offen und der Sache angemessen erörtern, ohne Vorabfestlegung in der einen oder anderen Richtung.
„Wir haben zu viel Institution Kirche und zu wenig Jesus Christus”, sagte Erzbischof Ludwig Schick von Bamberg am Palmsonntag. Und vom Wiener Kardinal Christoph Schönborn stammt der Satz: „Wir sind bereit, unsere Denk- und Handlungsmuster aus dem Geist Jesu zu erneuern.” Richtig so, nur müssen den Worten die Taten folgen, und dies schnell. Die Bischöfe müssen vorangehen!
Ernst-Wolfgang Böckenförde, 79, war Bundesverfassungsrichter von 1983 bis 1996.
Zuletzt geändert am 29.04.2010