23.7.2010 - Leonardo Boff
Wo liegt die wahre Krise der Kirche?
Kurz aber ohne Übertreibung gesagt: Die Institution Kirche baut auf zwei Formen der Macht auf: zum einen die säkulare, organisatorische, rechtliche und hierarchische Gewalt, ererbt vom Römischen Reich, und zum anderen die geistliche Vollmacht, begründet in der politischen Theologie des Augustinus über die „Stadt Gottes“ (Civitas Dei), die er mit der Kirche als Institution identifizierte. In deren konkreter Ausformung zählen weniger das Evangelium oder der christliche Glaube, sondern vielmehr diese Gewalten, die ihren Anspruch auf alleinige Vollmacht oder „Heilige Gewalt“ (potestas sacra) zum Ausdruck bringen, bis hin zur absolutistischen Machtvollkommenheit (plenitudo potestatis) im römisch-imperialen Stil der absoluten Monarchie. Der Caesar besaß die Fülle der Macht: politisch, militärisch, rechtlich und religiös. In ähnlicher Weise besitzt auch der Papst eine durchaus vergleichbare Machtfülle: „höchste, volle, unmittelbare und universale ordentliche Gewalt“ (Can. 331 CIC). Attribute, die eigentlich nur Gott zukommen. Als Institution betrachtet ist der Papst ein getaufter Caesar.
Dieses Machtprinzip, das die Struktur der Kirche als Institution bestimmt, begann sich im Jahre 325 mit Kaiser Konstantin auszubilden und wurde 392 offiziell verankert, als Theodosius der Große (+395) das Christentum zur einzigen Religion des Staates erhob. Die Institution Kirche übernahm diese Macht mit all den Titeln, Ehren und Palastsitten, wie sie im Lebensstil von Bischöfen, Kardinälen und Päpsten bis auf den heutigen Tag überdauern.
Mit der Zeit nahm diese Macht immer totalitärere und bisweilen tyrannische Züge an, besonders nach dem Pontifikat Gregors VII., der sich 1075 selbst zum absoluten Herrn der Kirche und der Welt proklamierte. Radikaler noch als jener, bezeichnete sich Innozenz III. (+1216) nicht allein als Nachfolger Petri, sondern als Stellvertreter Christi. Sein Nachfolger Innozenz IV. (+1254) tat den letzten Schritt und erklärte sich zum Stellvertreter Gottes und damit zum universalen Herrscher der Erde, der deren Teilgebiete nach eigenem Gutdünken an wen auch immer verteilen durfte, wie es der Papst dann später im 16. Jahrhundert auch tat, als er die Neue Welt unter den Königen von Spanien und Portugal aufteilte. Jetzt fehlte nur noch, den Papst für unfehlbar zu erklären, was 1870 unter Pius IX. geschah. Damit schloss sich der Kreis.
Nun befindet sich diese Art Institution heute in einem tief greifenden Erosionsprozess. Nach mehr als 40-jährigem Studium und Nachdenken über die Kirche (mein Spezialgebiet) drängt sich mir der Verdacht auf, für sie ist jetzt der entscheidende Moment gekommen: Entweder ändert sie sich mutig und findet damit ihren Platz in der modernen Welt und wirkt verändernd auf den Prozess der beschleunigten Globalisierung ein – und da hat sie eine Menge zu sagen –, oder sie verdammt sich selbst zu einem Dasein als immer unbedeutendere westliche Sekte, der die Gläubigen abhanden kommen.
Das derzeit von Benedikt XVI. verfolgte Projekt einer „Reconquista“ zur Rückgewinnung der Sichtbarkeit der Kirche als Gegenbild zur säkularisierten Welt ist zum Scheitern verurteilt, wenn auf institutioneller Ebene kein Wandel erfolgt. Die Menschen von heute akzeptieren keine autoritäre und deprimierte Kirche mehr, in der eine Stimmung wie auf der eigenen Beerdigung herrscht. Aber sie sind offen für die Erzählung von Jesus, für seinen Traum und für die Werte des Evangeliums.
Ein solches Hineinsteigern in den Willen zur Macht, in der trügerischen Vorstellung, sie komme unmittelbar von Christus, verhindert jede Reform der Institution Kirche, denn alles an ihr hätte als göttlich und unantastbar zu gelten. Hier tritt vollends die Logik der Macht zutage, wie sie Hobbes in seinem Leviathan beschreibt: Macht strebt nach immer mehr Macht, denn Macht lässt sich nur sichern, indem man sich mehr und mehr Macht verschafft. Eine kirchliche Institution, die auf diese Weise nach absoluter Macht strebt, verschließt der Liebe die Türen und distanziert sich von den Machtlosen, den Armen. Die Institution verliert ihr menschliches Gesicht und wird unempfindlich für existenzielle Probleme, etwa die der Familie und der Sexualität.
Das II. Vatikanische Konzil (1965) versuchte, dieser Fehlentwicklung mithilfe der Begriffe Gottesvolk, Communio und Kollegialität entgegenzuwirken. Doch dieser Versuch wurde von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. zunichte gemacht, die auf der Rückkehr zum römischen Zentralismus beharrten und die Krise damit verschärften.
Was aber an einem Tag errichtet wurde, kann an einem anderen wieder zurückgebaut werden. Der christliche Glaube besitzt aus sich heraus die Kraft, in diesem globalen Zeitalter eine institutionelle Form zu finden, die dem Traum seines Stifters eher gerecht wird und besser im Einklang mit unserer Zeit steht.
Leonardo Boff
Zuletzt geändert am 26.07.2010