21.9.2010 - Süddeutsche Zeitung
Außenansicht: Jesus Christus GmbH und Co. KG
Von Thomas von Mitschke-Collande
Die katholische Kirche in Deutschland befindet sich in einer schweren Krise. Sie ist erschüttert von den Missbrauchsskandalen. Zu lange stand die Sorge um das Ansehen der Institution im Vordergrund, zu lange hat die Leitung der Bischofskonferenz geschwiegen. Mögliche strukturelle Ursachen der sexuellen Gewalt wurden bis heute nicht weiter diskutiert. Dies hat verheerende Folgen. Die Institution hat an Glaubwürdigkeit verloren, die Gläubigen, gerade die treuesten, zweifeln, die Mitarbeiter sind verunsichert. Die Zahl der Kirchenaustritte ist sprunghaft gestiegen, sie könnte 2010 zwischen 250 000 und 375 000 liegen; 2007 lag sie noch bei 90 000. Es droht eine Marginalisierung des gesellschaftlichen Einflusses; katholischen Seelsorgern und Einrichtungen droht der Generalverdacht.
Von einer Beruhigung ist nicht auszugehen. Denn die aktuelle Krise trifft mit einer Entwicklung zusammen, die sich nun schon seit einer Generation beobachten lässt. Es naht das Ende der Volkskirche; es ist vielfach bereits eingetreten. Die Kirche befindet sich in einer tiefen Identitätskrise. Nur noch die Hälfte der Kirchenmitglieder glaubt an ein Leben nach dem Tod, nur noch ein Drittel an die leibliche Auferstehung von Jesus Christus und der Toten. Was würde wohl mit einer Partei geschehen, in der nur ein Drittel elementare Parteiaussagen unterstützt? Es ist das Vertrauen in die Kirche geschwunden: Laut Umfragen steht die katholische Kirche in der Vertrauensskala noch hinter Parteien, Aufsichtsräten und Großbanken. Noch hängt die überwiegende Zahl der Katholiken an ihrer Kirche. Doch irgendwann geht auch dieses Vertrauen verloren.
In der öffentlichen Meinungsbildung spielt die Kirche nur noch eine untergeordnete Rolle: Zwei bis drei Prozent der Gesamtbevölkerung orientieren sich an der Institution Kirche und an Geistlichen – oder trauen sich, das zuzugeben. Mehr als die Hälfte aller Katholiken sagt, dass in der Kirche nicht die richtigen Leute in den Führungspositionen sitzen. Sie haben ihre Gründe dafür: Die Zahl der Priesterkandidaten hat sich in den vergangenen 20 Jahren nahezu halbiert. Die Befürchtung ist berechtigt, dass entsprechend die Zahl derer zurückgegangen ist, die ausreichend Talent, Ausstrahlung und Qualifikation besitzen, um ihrer Berufung gerecht zu werden. Nach außen hin ist die Kirche noch stark; inflationsbereinigt verfügt sie heute über fast das Vierfache an Ressourcen wie vor 50 Jahren. Im selben Zeitraum ist aber die Zahl der Gottesdienstbesucher um zwei Drittel zurückgegangen, es gibt nur noch halb so viele Taufen, Trauungen, Beerdigungen.
Wie soll die Kirche auf diese Krise reagieren? Hier scheinen zwei Alternativen denkbar zu sein: Das eine Modell ist eine Kirche, die ihr eigenes Schrumpfen als unausweichlich akzeptiert und sich zurückzieht in die Wagenburg. Das andere Modell ist eine offene, missionarische Kirche, die Teil der Gesellschaft ist, sich mit gesellschaftlichen Fragen im Sinne des Evangeliums auseinandersetzt. Das erste Modell ist der Weg des geringsten Widerstands. Um das zweite Modell erfolgreich zu machen, bedarf es großer Anstrengung. Hier aber liegt die Chance der Kirche in Deutschland. Es gibt ja durchaus viele Menschen, die sich eine geistige Rückbindung, religio , wünschen. Die katholische Kirche ist aber in ihrer Ängstlichkeit dabei, die Chancen zu übersehen. Zu sehr erscheint sie beschäftigt mit sich selbst, ihren Identitätskrisen, ihren finanziellen und personellen Problemen.
Ein Unternehmen in einer vergleichbaren Situation würde nun eine umfassende, ausgangsoffene Positionsbestimmung vornehmen. Das Ergebnis würde zu entsprechenden Handlungen führen. In der Kirche ist dies momentan nicht der Fall. Doch eine Institution, die sich mit einer schrumpfenden Mitgliederzahl und einer kleiner werdenden Bedeutung abgibt, ist bereits verloren.
Was könnten die Bischöfe tun? Sie sollten zunächst eine Null-Fehler-Toleranz formulieren und sie nach innen und außen klar kommunizieren. Die Kirchen brauchen klare und schnelle Prozesse; völlige Transparenz muss gewährleistet werden. Null-Fehler-Toleranz bedeutet nicht die drakonische Bestrafung jedweden Vergehens. Sie ist aber der Anspruch, die Heiligkeit der Kirche besser als bisher auch im Alltag zu leben. Darüber hinaus braucht die Kirche eine professionelle Medienarbeit, die den Erfolgskriterien der heutigen Medienwelt entspricht. Sie muss wieder kampagnenfähig werden. Sie hat in dem Evangelium gute, immer aktuelle Botschaften. Sie hat vertraute Rituale, sie hat viele bekannte Gesichter, sie ist weltweit präsent mit dem Papst in Rom. Derzeit aber sprechen die 27 Diözesen in Deutschland in unterschiedlichen Sprachen, teilweise widersprechen sie sich in schädlicher Weise. Und wenn sie gemeinsam sprechen, fehlt ihnen die Sprache der Zeit.
Die Kirche braucht eine neue Kultur des Miteinanders – bei der Priester und Laien sich auf Augenhöhe befinden. Innerkirchliche Diskussionen und Auseinandersetzungen dürfen nicht als Angriff verstanden werden, sondern als das Wirken des Heiligen Geistes. Um der Wahrheit willen muss die Kirche geradezu die Pflicht zum Widerspruch einführen. Sie muss das Glaubenszeugnis des Einzelnen schätzen lernen. Der Mensch muss Mittelpunkt allen kirchlichen Wirkens werden.
Derzeit sprechen viele Bischöfe von Erneuerung. Hier müssen nun Taten folgen. Natürlich hat der deutsche Episkopat nur einen eingeschränkten Gestaltungsspielraum, den aber gilt es zu nutzen. Ihr Mut und ihre Führungsrolle sind jetzt gefordert. Das noch loyale Kirchenvolk wartet auf sichtbare Zeichen. Die Zeit drängt. Die Bischöfe könnten einen breiten Dialogprozess anstoßen, der in eine Zukunftskonferenz mündet: „Unsere Kirche von morgen“ – zu Pfingsten 2012, in Fulda am Grab des heiligen Bonifatius. Am Montag hat in Fulda das Herbsttreffen der Bischöfe begonnen – warum beschließt sie nicht einfach eine solche Konferenz? Dort sollte zum Beispiel auch über Kontrolle und Legitimation von Macht innerhalb der Kirche diskutiert werden, über die Kommunion für Wiederverheiratete, die Sexualmoral, die Rolle der Frau, der Zugang zum Priesteramt.
Auf dem Ökumenischen Kirchentag in München im Mai sagte Münchens Erzbischof Reinhard Marx, es gelte, einen Neuaufbruch zu wagen. Dem Wort „wagen“ kommt eine zentrale Rolle zu. Nicht wer jetzt abwartet, beweist Gottvertrauen, sondern, der, der mutige Schritte tut.
Thomas von Mitschke-Collande, 60, war bis März Partner bei der Unternehmensberatung McKinsey. Er beriet unter anderem die katholische Bischofskonferenz und mehrere Bistümer.
Zuletzt geändert am 26.09.2010