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Veröffentlicht am 15­.12.2010

15.12.2010 - Süddeutsche Zeitung

Der Blick in den Abgrund

Das Gutachten des Erzbistums zu den Missbrauchsfällen ist eine bedrückende Offenbarung – es zeigt ein Klima, in dem Vertuschung, Verharmlosung, auch Erpressung üblich waren.

Von Matthias Drobinski und Monika Maier-Albang

Rot ist es eingebunden und 250 Seiten dick: das Buch. Es hat die Auflage von einem Exemplar, und das liegt im Tresor des Generalvikars Peter Beer. Es heißt, nicht einmal der Chef der Bistumsverwaltung käme alleine an das Buch; es brauche zwei verschiedene Schlüssel, um den Tresor zu öffnen. So brisant ist das Gutachten, das die Anwältin Marion Westpfahl im Auftrag des Erzbistums München-Freising verfasst hat.

Ein halbes Jahr lang hat die ehemalige Richterin und Staatsanwältin 13 200 Akten durchforsten lassen, hat mit aktiven und ehemaligen Verantwortlichen gesprochen, die ihr mal mehr und mal weniger bereitwillig Auskunft gaben – darüber, wie das katholische Erzbistum von 1945 bis 2009 mit Fällen von sexueller und körperlicher Gewalt gegen Kinder und Jugendliche umgegangen ist. Veröffentlicht wurde bislang nur eine Zusammenfassung des Buchs, doch schon die öffnet den Blick in einen Abgrund.

Wie tief genau der Abgrund ist, wissen wahrscheinlich nur Kardinal Reinhard Marx, Generalvikar Beer und Marion Westpfahl, die Autorin. Die Zusammenfassung der Ergebnisse, die Westpfahl, Marx und Beer am 3. Dezember präsentierten, genügte, dass die anwesenden Journalisten immer tiefer in ihre Stühle sanken. Was Westpfahl als „Kernaussagen des Gutachtens“ bezeichnet hat, lässt sich so zusammenfassen: Über Jahrzehnte hinweg hat das Erzbistum Gewalt gegen Kinder und Jugendliche verdrängt und verharmlost. Die Kirche schützte die Täter, vor allem, wenn sie Priester waren. Sie ließ die Opfer im Stich. Akten wurden nur unvollständig geführt, sind verschwunden, einige lagerten beim ehemaligen Personalchef Friedrich Fahr zu Hause; viele Taten sind kaum noch nachvollziehbar, weil sie nur angedeutet oder verharmlost werden. Nur selten wurden die Täter vor Gericht verurteilt, von 159 auffälligen Priestern nur 26, von 96 Religionslehrern nur einer. Vertuschung und Verharmlosung hatten System, so die Analyse der Anwältin – bis dahin, dass „höherrangige Personen im Ordinariat“ erpresst wurden, weil sie schwul waren.

„Höherrangige Personen“ im Ordinariat wurden erpresst, weil sie schwul waren.

Anhaltspunkte hierfür habe sie „wiederholt“ in den Akten gefunden, sagt Westpfahl. Immer wieder gab es offenbar Mitarbeiter mit Personalverantwortung, die eigentlich hätten aufklären müssen – doch die Täter wussten von deren homosexueller Veranlagung: „Sie wussten, dass hier jemand eine offene Flanke hat“, wie Westpfahl sagt. Manchmal reichten offenbar Andeutungen, um den Betreffenden klar zu machen, dass sie besser nicht weiter bohren. Westpfahl hatte von der amtierenden Bistumsleitung den Auftrag erhalten, Strukturen aufzuzeigen, die den Missbrauch begünstigten. Eine ihrer Schlussfolgerungen ist: Die Umgang der katholischen Kirche mit dem Thema Homosexualität ist ein Teil des Problems. „Selbst wenn Priester zölibatär leben, sind sie angreifbar“, sagt die Anwältin – Homosexualität gilt schließlich als Weihehindernis. Die Angreifbaren rückten ihrerseits zusammen; Westpfahl spricht von „Gruppenbildung“: „Man kümmerte sich um seinesgleichen, verhalf sich gegenseitig in Karrieren“. Andere würden weniger vornehm von schwulen Netzen sprechen.

Systematische Vertuschung – das ist der Vorwurf, der seit dem 3. Dezember das Erzbistum umtreibt. Er trifft die Münchner Kardinäle Döpfner, Ratzinger und Wetter, er trifft nach Westpfahls Erkenntnissen mehr noch die Generalvikare, wobei sie die „ersten beiden nach dem Krieg“ ausnimmt: Ferdinand Buchwieser, den Verwaltungschef des Bistums von 1932 bis 1953; Johann Fuchs, der bis 1960 Generalvikar war. 1961 übernahm ein Mann den Posten, der bis heute einen klangvollen Namen hat im Erzbistum: Johannes Neuhäusler war während der NS-Zeit als „Sonderhäftling“ in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Dachau interniert – und ab 1947 Weihbischof im Erzbistum. Kardinal Julius Döpfner machte ihn 1961 zugleich zum Chef der Kirchenverwaltung. 1962 übernahm Matthias Defregger den Posten, bis er 1968 Weihbischof wurde.

Bis in die sechziger Jahre hinein, so lautet die Schlussfolgerung, wurden Priester streng diszipliniert, wenn sexuelle Übergriffe bekannt wurden. Die Wende kam – das ist ein kirchenpolitisch heikler Punkt – im Vorgriff auf das Zweite Vatikanische Konzil. Ausgerechnet aus der vorsichtigen und doch wieder verdrucksten Liberalisierung der katholischen Kirche entwickelte sich ein angeblich „pastoraler“, milder Umgang mit den Tätern, der immer wieder verheerende Folgen hatte. Personalchefs schickten auffällig gewordene Pfarrer von einer Therapie zur anderen, versetzten sie mal aufs Land, mal in ein anderes Bistum; immer im Bewusstsein, dass man dem Bruder im Amt helfen müsse. Das Schicksal der Opfer interessierte nicht.

Erst 2002, mit Inkrafttreten der Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz, änderte sich das – auch durch die Einführung von Missbrauchsbeauftragten in den Bistümern. In München übernahm Siegfried Kneißl, mittlerweile Personalreferent, diesen Posten. Seine Dokumentationen nimmt Westpfahl ausdrücklich von der Kritik aus: Die Taten würden hier „ungeschönt und ohne fehlverstandene Schamhaftigkeit“ dargestellt.

Wie viel aber wussten die Erzbischöfe? Wie hat sich der Rest der Führungsmannschaft verhalten? Hat ein Generalvikar die Akten besonders nachlässig geführt? Die Antwort darauf fehlt. Man wolle nicht „mit dem Finger auf andere zeigen“, hat Kardinal Reinhard Marx bei der Vorstellung des Berichts gesagt. So findet sich in der Zusammenfassung kein einziger Name. Trotzdem – oder gerade, weil man damit offen lässt, wer welche Schuld auf sich geladen hat – stellt der Bericht so manches Lebenswerk angesehener Ordinariats-Mitarbeiter in Frage. Bis hin zu Marx’ Vorgänger, dem heute 81-jährigen Kardinal Friedrich Wetter.

Vielleicht äußern auch deshalb hochrangige Mitarbeiter Zweifel, ob wirklich alles so dramatisch ist, wie es nun erscheint. Für Generalvikar Beer, den Aufklärer, sind das die Anhänger des alten Denkens, die sich der Wahrheit verweigern; in deren Augen wiederum ist Beer eine Art unerbittlicher Großinquisitor, der nach nur einem Jahr im Amt die Verhältnisse im Erzbistum von unten nach oben verkehren will. „Die drei Wilden“ werden Marx, Beer und Bistumssprecher Bernhard Kellner schon mal genannt. Die nehmen ihrerseits für sich in Anspruch, ein neues Zeitalter im Erzbistum eingeläutet zu haben, in dem nichts mehr unter die Decke gekehrt wird und Opfer Gehör finden. Die Politik findet das gut; Bayerns Justizministerin Beate Merk ließ nach der Vorstellung des Berichts erklären, die katholische Kirche habe „einen eindeutigen Schritt gemacht“.

Im Bistum allerdings ist das Leben unter den wichtigen und mächtigen Männern (und wenigen Frauen) der Verwaltung noch schwieriger geworden als zuvor. Beers Vorgänger im Amt, Robert Simon, sieht sich, so sagen Bekannte, vorgeführt und ungerecht behandelt. Über seine Sicht der Dinge sprechen will er allerdings nicht. Simons Vorgänger Gerhard Gruber, der Ratzinger und Wetter diente, soll wiederum Marion Westpfahl Rede und Antwort gestanden haben. Auch der einstige Personalchef Wolfgang Schwab, von Marx vorzeitig entlassen, berät nun Beer bei der anstehenden Verwaltungsreform. So gehen die Risse längs und quer durchs Ordinariat. Die Gruppenreise des Domkapitels nach Rom zur Kardinalserhebung von Marx im November war nicht für alle gleich fröhlich. Marx und Wetter gingen sich schon in Rom erkennbar aus dem Weg, beim Empfang in der Heimat war dies nicht anders.

So handeln die 250 Seiten des roten Buches im Tresor einerseits vom sexuellen Missbrauch im Erzbistum München und Freising – und zugleich von viel mehr. Es geht auch darum, wie die katholische Kirche sich selber organisieren, ihre Priester und pastoralen Mitarbeiter führen soll, wie sie mit Macht und Leitungsverantwortung umgeht. Westpfahls Bericht attestiert den vergangenen Bistumsleitungen eine „fehlende Bereitschaft, Konflikte anzugehen und auszuhalten“. Konfliktunfähigkeit nur im Umgang mit den Tätern? Oder auch im Leitungsteam?

Schon früher wurde kolportiert, dass Kardinal Wetter seine Referatsleiter nicht im Griff habe, dass sie zu stark und eigenmächtig seien und er sich letztlich nicht durchsetzen könne. Im Ordinariat widersprach man dem stets: Der Kardinal wisse über alles Bescheid, brauche nur manchmal Zeit zur Entscheidungsfindung. Und nicht immer müsse alles ausdiskutiert werden in der Leitungsrunde; man kenne den Kardinal schließlich so gut, dass auch so klar sei, was er wolle. Vielleicht war es aber doch ein Problem, dass Dinge unausgesprochen blieben. Hier möchte Beer einen „Kultur- und Klimawechsel“ erreichen, wie er bei der Vorstellung des Berichts sagte.

Früheren Bistumsleitungen fehlte die Kraft, Konflikte anzugehen und auszuhalten.

Das Bistum will künftig den Pfarrern und pastoralen Mitarbeitern Vorgaben machen und konsequent eingreifen, wenn jemand auffällig wird. Die Zuständigkeiten sollen klarer geordnet sein: Keiner soll sich herausreden können, dass ja ein anderer Dienstaufsicht über einen problematischen Pfarrer gehabt hätte. Generalvikar Beer ist mitten in einer Verwaltungsreform, aus bislang 15 Referaten sollen sieben werden. Gewöhnlich ist so etwas nur schwer durchzusetzen – Mitarbeiter fürchten um ihre Arbeit, Chefs um ihre Macht, viele draußen in den Pfarreien einen neuen Zentralismus. Der Missbrauchsskandal hat den Prozess enorm beschleunigt – wer kann noch gegen die Reform sein, wenn dem Ordinariat so offensichtliche Missstände bescheinigt werden? Das Buch im Tresor verleiht Erzbischof und Generalvikar zudem eine geradezu unheimliche Macht: Kritiker aus der alten Zeit müssen fürchten, dort vorzukommen, ohne dass sie wissen, wie sie dort vorkommen.

Mutig ist und bleibt diese radikale Aufarbeitung trotzdem – kein anderes Bistum hat bislang so hart ermittelt und so weitreichende Konsequenzen angekündigt. Westpfahl hat eine verbesserte Aktenführung angemahnt. Sie hat empfohlen, die Stellung des Missbrauchsbeauftragten zu stärken und die Priesterausbildung „durch sachkundige und unvoreingenommene Personen kritisch“ dahingehend zu überprüfen, „inwieweit die skizzierten Persönlichkeitsmerkmale dort einen Nährboden finden“.

Denn was die Anwältin als Charakterzüge der Täter herausgefiltert hat, ist erschreckend. Westpfahl beschreibt sie als „psychisch und psychisch gering belastbare Persönlichkeiten“, die sich häufig in den Briefen ans Ordinariat wehleidig bemitleiden und unselbstständig erscheinen. So bat ein 55-jähriger Gemeindepfarrer das Ordinariat um Hilfe, weil sich „sein Heißwasserboiler verabschiedet hatte“ – auf die Idee, einen Handwerker anzurufen, kam er nicht. Häufig spielen auch Suchtprobleme eine Rolle; aus den Akten geht hervor, dass manche Täter sehr wohl Gewissensbisse hatten – sie ertränkten sie im Alkohol.

Sie habe, erzählt Marion Westpfahl, seit der Vorstellung des Berichts sehr viele positive Reaktionen von Missbrauchsopfern bekommen. Die Menschen seien „dankbar dafür, dass endlich jemand dieses System beschreibt, das sie zu Opfern hat werden lassen“. Ein System, beschrieben auf 250 Seiten, rot gebunden, in den Tresor geschlossen.

Achtung, Text auf 3 Seiten
http://www.sueddeutsche.de/muenchen/missbrauch-in-der-kirche-der-blick-in-den-abgrund-1.1036419

Zuletzt geändert am 15­.12.2010