14.1.2011 - Fraunkfurter Rundschau
Missbrauch in der Kirche. Verlogen und scheinheilig
Will die katholische Kirche an die Ursachen des Missbrauchsskandals heran, muss sie ihre Haltung zur Homosexualität ändern. Die Rufe nach Reformen werden lauter.
"Seltsam ist das“, sagt Matthias und schaut ein wenig betreten drein. „In den Ferien waren meine Töchter mit der Pfarrgemeinde weg. Und irgendwie war mir dabei komisch zumute. Als sie danach mit dem Sportverein auf Tour gegangen sind, hatte ich überhaupt nicht dieses Gefühl.“ Matthias, Anfang 40, ist katholisch. Er besucht mit seiner Familie den Gottesdienst, er interessiert sich für Theologie, redet gern über Glaubensfragen – früher hätte man ihn einen „treuen Sohn der Kirche“ genannt. So einem ist heute unwohl, wenn er Mutter Kirche die eigenen Kinder anvertraut.
Solche Begebenheiten sind der beste Beleg für die dramatische Lage der katholischen Kirche in Deutschland. Ein Jahr ist vergangen, seit Pater Klaus Mertes einen „systematischen sexuellen Missbrauch“ am Canisius-Kolleg öffentlich machte, dem Elite-Gymnasium des Jesuitenordens in Berlin. Es war der Beginn eines Skandals, der Kirche und Gesellschaft erschüttert hat. Das Problem der Kirche heute sind gar nicht so sehr die Kirchenaustritte. Ja, gewiss, deren Zahl ist 2010 sprunghaft gestiegen: Noch vor der Bekanntgabe der offiziellen Statistik ergab eine Umfrage der FR in den Bistümern eine Zunahme um bis zu zwei Drittel gegenüber 2009. Damals hatten sich 124.000 Katholiken formell von der Kirche losgesagt.
Die "Herde" wird kleiner
„Das sind aber doch nur 0,5 Prozent von 25 Millionen katholischen Christen in Deutschland“, trösten sich die einen. „Das sind viel weniger Austritte als in der evangelischen Kirche“, rechnen andere vor. Und wieder andere winken ab: „Das sind doch nur die, die sowieso auf dem Absprung waren.“ Menschen mit „lockerer Verbindung zur Familie Gottes“ nennt sie der Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller despektierlich und fügt trotzig hinzu: „Vielleicht wird unsere Herde kleiner, aber nicht verzagter.“
Wer so redet wie Müller, der hat wohl selber niemals Leute wie Matthias gehört, den besorgten katholischen Vater. Und wenn er sie doch gehört hat, dann hat er ihnen nicht zugehört, sondern dem selbstgewissen Hochgesang von der „kleinen, aber feinen Herde“ eine weitere, ebenso vertraute – und abgedroschene – Strophe folgen lassen: „Die Proportionen in der Berichterstattung haben nicht gestimmt. Kirchliche Mitarbeiter sind für 0,1 Prozent dieser Untaten verantwortlich. Aber es gab 70 000 Berichte zu Kirche und Missbrauch in den letzten vier Monaten.“
Das war Bischof Müllers Sicht der Dinge noch im August 2010. Die katholische Kirche, die Kleriker – eigentlich allesamt Opfer. In Variationen ist diese Argumentation gar nicht einmal so selten.
Neueste Erhebungen in den deutschen Bistümern und Ordensgemeinschaften nennen eine Gesamtzahl von 900 Tätern und etwa doppelt so vielen bekannten Opfern. Angesichts dieser Fallzahlen über die Jahre und Jahrzehnte, sagen die Apologeten, sei die Aufregung unverhältnismäßig – bei allem berechtigten Entsetzen. Die meisten Fälle von Kindesmissbrauch fänden in den Familien statt, und ausgerechnet die linke Reformpädagogik habe sich als besonders anfällig erwiesen – siehe Odenwaldschule oder Helene-Lange-Schule. Die Gesellschaft lagere ein eigenes Übel exklusiv in die Kirche aus und arbeite sich dann – wenn das Wort hier erlaubt ist – lustvoll an ihr ab, allen voran am Papst. Die Folge sei nicht zuletzt ein Generalverdacht gegen Priester, Ordensleute und kirchliche Mitarbeiter.
Diese Verteidigung ist nicht samt und sonders falsch. Aber sie führt auf die falsche Fährte. Mit dem Finger auf andere zu zeigen und zu rufen „ihr doch auch!“ – das vergrößert für die Kirche nur noch die Fallhöhe des Skandals. Denn sie tritt ja gerade mit dem Anspruch an, dass es bei ihr anders – besser – zugeht als bei anderen. Da nützt es ihr herzlich wenig, sich ausgerechnet in dem Moment mit der „Welt“ gemein zu machen, in dem sich in ihr selbst Abgründe auftun.
Trierer Bischof fordert schonungslose Selbstreflexion der Kirche
Anders als Müller hat es der Missbrauchsbeauftragte der Bischofskonferenz, Stephan Ackermann, vermieden, den Skandal durch Verweis auf Missbrauch auch in anderen Institutionen zu relativieren. Stattdessen mahnt der Trierer Bischof eine schonungslose Selbstreflexion der Kirche an. In einem Vortrag, von der Öffentlichkeit kaum beachtet, geht er weit hinaus etwa über die Neufassung der bischöflichen Leitlinien zum Umgang mit sexuellem Missbrauch. Ackermanns Ansatz ist radikaler als der Ruf nach verbesserter Prävention, sorgfältigerer Auswahl und intensiverer Begleitung der Priesteramtskandidaten, vertiefter Auseinandersetzung der Kleriker mit ihrer Sexualität.
Dies alles ist entscheidend wichtig. Und doch weitet der Trierer Bischof – inspiriert vom großen Jesuitentheologen Karl Rahner – die Perspektive theologisch: „Ist es nicht tatsächlich so, dass die Vorstellung von einer unantastbaren Heiligkeit und Makellosigkeit der Kirche mit dazu beiträgt, die Verfehlungen einzelner zu vertuschen, wenn durch sie die Gefahr besteht, die Kirche als ganze könne in Mitleidenschaft gezogen werden?“ Theologie, so der Vorwurf, werde leicht zur Ideologie.
Von einer solchen Sicht ist der oberste aller Theologen weit entfernt. Papst Benedikt XVI. vergleicht den Skandal in seinem jüngst erschienenen Interview-Buch „Licht der Welt“ mit einem Vulkankrater. Aus diesem „kam plötzlich eine gewaltige Schmutzwolke heraus, die alles verdunkelte und verschmutzte“. In der Metaphorik Benedikts XVI. wird etwas eigentlich Sauberes, Reines – das Priestertum – äußerlich verdreckt, es erscheint „als Ort der Schande“. Wäscht man aber Schmutz und Dreck ab, kommt darunter der ursprüngliche Glanz wieder zum Vorschein.
Ein solches Verständnis wird kaum zu Ackermanns Frage durchdringen, ob nicht die Kirche selbst der „Krater“ ist, aus dem die Schmutzwolke dringt. Ob also im Missbrauchsskandal nicht – ein „Systemversagen“ der Kirche vorliegt, wie es der Mainzer Moraltheologe Stephan Goertz formuliert.
Hieran müsste die Kirche bei ihrer Krisenbewältigung mindestens so intensiv arbeiten wie an all den operativen Maßnahmen gegen sexuellen Missbrauch. Vorbehaltlose Zusammenarbeit mit der staatlichen Justiz; ein wirklich unabhängiges Ombuds-Regime; eine großherzige Entschädigung der Opfer, die mehr ist als eine noble Geste, sondern Ausdruck einer notwendig „schmerzhaften Sühne“ (Pater Klaus Mertes). All das muss oder müsste geschehen. Aber es sollte sich darin nicht erschöpfen.
Wer nämlich sexuellen Missbrauch möglichst umfassend verhindern will, der muss an die Tiefenursachen heran. Hierzu lautet die Auskunft der Humanwissenschaften, scheinbar paradox: Sexueller Missbrauch hat weniger mit Sexualität zu tun als mit Macht. Folgt man dieser Erkenntnis, dann leuchtet ein, was auch Vertreter der Amtskirche selbst so gern betonen: Mit den Standardvorschlägen zu einer Kirchenreform – Aufhebung des Pflichtzölibats für die Priester, Zulassung von Frauen zu den geistlichen Ämtern – kommt man im Kampf gegen sexuellen Missbrauch durch Kleriker tatsächlich nicht sonderlich weit. Ruf nach Reform
Wohl aber müsste die Kirche ihr Verständnis von Sexualität ändern – und hier speziell ihre Haltung zur Homosexualität. Nicht etwa, weil es einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Homosexualität und Pädophilie gäbe. Die meisten Erwachsenen, die Minderjährige sexuell missbrauchen, sind Heterosexuelle. Wunibald Müller, der bekannteste therapeutische Begleiter sexuell gestörter Priester, stellt aber auch fest, und hier wird es spannend, dass die Opfer bei sexuellem Missbrauch durch Priester in vier von fünf Fällen Jungen zwischen 14 und 17 Jahren sind. Die Täter seien „in ihrer sexuellen und da auch homosexuellen Entwicklung stehen geblieben“. Ihren Anteil am Klerus beziffert Müller auf bis zu vier Prozent, eine erschreckende Quote. Für diese Personengruppe wiederum sei der Zölibat oft eine Möglichkeit, „die mitunter schmerzvolle Auseinandersetzung mit der eigenen Identität zu vermeiden“. Die Quintessenz: Der Anteil der „unreifen“ homosexuellen Männer ist unter den homosexuellen Priestern überdurchschnittlich hoch, und diese Gruppe von Priestern ist hinsichtlich des Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen besonders gefährdet.
Diese scheinbar lapidare Analyse ist nichts weniger als der Donner eines Sturmgeschützes, gerichtet auf eine vermeintlich feste Bastion: den Ausschluss Homosexueller vom Priestertum. Während Wunibald Müller und andere ungeniert (und offenbar erfahrungsgesättigt) einen hohen Prozentsatz homosexueller Priester feststellen, dekretiert der Vatikan das Gegenteil. In einer „Instruktion“ aus dem Jahr 2005 mit dem umständlichen Titel „Über Kriterien zur Berufungsklärung von Personen mit homosexuellen Tendenzen im Hinblick auf ihre Zulassung für das Priesterseminar und zu den heiligen Weihen“ heißt es: „Die Kirche kann jene nicht zulassen, die Homosexualität praktizieren, tiefsitzende homosexuelle Tendenzen haben oder eine so genannte homosexuelle Kultur unterstützen. Die genannten Personen befinden sich nämlich in einer Situation, die in schwer wiegender Weise daran hindert, korrekte Beziehungen zu Männern und Frauen aufzubauen.“
Zwar betont der Vatikan auch, dass Homosexuelle menschliche Achtung verdienten. Ungerührt spricht er ihnen aber per se die „affektive Reife“ ab. In ihrer doppelten Wirklichkeitsverweigerung ist diese Haltung nicht anders als grotesk zu nennen: Zum einen ignoriert der Vatikan die Erkenntnisse der Wissenschaft. Zum anderen tut er so, als gäbe es diese „zu korrekten Beziehungen unfähigen“ Männer im Klerus nicht zuhauf. Darüber ist leicht spotten:
Und er kommt zu dem Ergebnis:
Nur ein Traum war das Erlebnis.
Weil, so schließt er messerscharf,
nicht sein kann, was nicht sein darf.
Diese Verse Christian Morgensterns zitiert der katholische Theologe David Berger in seinem Buch „Der heilige Schein“. Er zeichnet darin nach, wie er als Schwuler ausgerechnet im extrem schwulenfeindlichen Milieu der Traditionalisten und Rechtskonservativen Karriere machte und es in Rom bis zum Professor einer päpstlichen Akademie brachte. Zu Bergers Bruch mit dieser Laufbahn und zum Outing in der Frankfurter Rundschau hat nach eigenen Worten auch das Vatikan-Papier von 2005 geführt. Es erhebe „die Diskriminierung homosexuell veranlagter Priester geradezu zum Programm“, indem es Homosexuelle allein ihrer geschlechtlichen Orientierung wegen vom Priesteramt ausschließt.
Von dieser Position Roms ist es nur ein kleiner Schritt bis zum Verdikt des Essener Bischofs Franz-Josef Overbeck, der es bei Anne Will in der ARD als Sünde bezeichnete, homosexuell zu sein. Nach der Lehre der Kirche gilt das zwar gerade nicht für die homosexuelle Veranlagung, sondern eigentlich nur für homosexuelle Praxis, die der Weltkatechismus von 1993 als „in sich nicht in Ordnung“ qualifiziert. Aber solche Subtilitäten verflüchtigen sich offenkundig alsbald, sogar im Kopf eines hoch gebildeten Bischofs.
Mit Blick auf die kirchliche Praxis gegenüber Schwulen und speziell gegenüber schwulen Priestern beschreibt Berger ein System organisierter Scheinheiligkeit und Repression. Dabei gehe es um den „Machterhalt der herrschenden Autorität. Wer in dieser Märchenwelt mitspielt, wird dadurch entlohnt, dass er unbehelligt bleibt.“
Für einen katholischen Homosexuellen kann das Priesteramt eine attraktive Option sein. Da ist die Ästhetik der Liturgie. Da ist aber auch der empathische, den Menschen zugewandte Dienst des Seelsorgers. Und da ist – nicht zu vergessen – ein Umfeld, in dem das Fehlen einer „Frau an seiner Seite“ nicht nur als normal, sondern sogar als normativ erachtet wird. Allerdings erkauft der homosexuelle Priesteranwärter seinen Zutritt zum Allerheiligsten mit struktureller Heimlichtuerei und einer Art existenziellen Schizophrenie: Denn laut Vatikan kann, darf es ihn ja gar nicht geben. Dass hier ein Einfalltor offen ist für Kandidaten, die in ihrer sexuellen und seelischen Reife unterentwickelt sind, liegt auf der Hand. Es gilt der Grundsatz: Kirchliche Sexualmoral und Zölibat „produzieren“ nicht Pädophilie oder andere sexuelle Störungen. Die Ursache für Kindesmissbrauch liegt nicht in der Lebensform (Paul Zulehner). Aber sie kann ein vermeintlich gedeihliches und schützendes Biotop sein für Männer mit einer unzureichend entwickelten Sexualität. Das gilt für heterosexuelle, aber eben auch für homosexuelle Männer.
Wahrung des heiligen Scheins
Für David Berger, den schwulen Theologen, ist nach seinem Outing klar, dass Rom überdies ein äußeres Machtinteresse am Status quo hat: „Ein Papst, der zusammen mit seinen Kardinälen und Bischöfen in Anspruch nimmt, „Stimme der moralischen Vernunft der Menschheit“ zu sein, kann es sich nicht leisten, eine Institution zu leiten, in der Unmoral herrscht und gegen kircheneigene Regeln verstoßen wird. So ist es verständlich, dass es kaum ein größeres Vergehen gibt, als den heiligen Schein zu zerstören.“
Hier schließt sich der Kreis: Wie sagt der Missbrauchsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz, Stephan Ackermann? „Nichts trifft die Glaubwürdigkeit der Kirche härter als der Vorwurf der Verlogenheit und Scheinheiligkeit.“ Die katholische Kirche in ihrer Haltung zur Homosexualität aber ist verlogen und scheinheilig. Vor allem das ist der Berührungspunkt zum Missbrauchsskandal und eben kein voreiliger, verfehlter Brückenschlag von der Homosexualität zur Pädophilie.
„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Wenn die katholische Kirche diese Einsicht Hölderlins beherzigte, müsste sie endlich mit einer anderen, neuen Sexualmoral aufwarten – wenn nicht um ihrer selbst willen, dann doch wegen der Opfer.
Der Skandal Ende Januar 2010 wurde ein Brief des Rektors des Canisius-Kollegs in Berlin bekannt. Er informierte darin mehr als 600 ehemalige Schüler über den systematischen sexuellen Missbrauch durch zwei Patres in den 1970er und 1980er Jahren. Das war der Beginn eines bundesweiten Skandals, denn auch Opfer in anderen Einrichtungen meldeten sich zu Wort. Die Deutsche Bischofskonferenz verschärfte im August ihre Leitlinien.Danach soll stets eine Strafanzeige gestellt werden. Die Missbrauchsbeauftragten sollen zudem zur Sicherstellung ihrer Unabhängigkeit nicht mehr der Bistumsleitung angehören. Eine erweiterte Fassung dieses Beitrags sendet der Norddeutsche Rundfunk (NDR) in der Hörfunkreihe „Glaubenssachen“ auf NDR-Kultur am Sonntag um 8.40 Uhr. FR |
http://www.fr-online.de/politik/spezials/missbrauch/verlogen-und-scheinheilig/-/1477336/5637506/-/index.html
Zuletzt geändert am 17.01.2011