6.5.2011 - Süddeutsche Zeitung
Jetzt machen wir euch katholisch
Es war eine Frontalattacke, die wieder einmal aufgezeigt hat, dass Ökumene ein surreales Projekt ist und bleibt. In dem Interview, das der Bischof von Regensburg Gerhard Ludwig Müller vergangene Woche der Nachrichtenagentur dadp gab, war die Rede von einer „Aschenputtelrolle“, in welche sich die katholische Kirche gedrängt fühlt, weil der Protestantismus sich als „Kirche der Freiheit“ geriere und „positiv besetzte Worte wie Pluralismus, Emanzipation, Selbstbestimmung, Gewissen“ für sich reklamiere. Und dann rekurrierte Müller, zwar nur Provinzhirte in Regensburg, aber oberster Unterhändler des Katholizismus in der deutschen Ökumene, auf Martin Luthers Schmähung, wonach der Papst den Antichristen verkörpere.
Müller fordert heute, nach bald 500 Jahren, eine Distanzierung der Protestanten von dieser Äußerung aus einer Zeit, in der die Vorstellung vom Antichrist noch wirklich teuflische Furcht erregte. Für die Protestanten stellt sich nun die Frage, wie sie auf diese bizarre Forderung reagieren sollen. Am besten so: Papst hin oder her, aber sorry, den Antichrist, den gibt’s gar nicht, oder? Für säkulare, aber kirchentreue Katholiken ist die Angelegenheit weniger einfach: Als solche dürfen sie sich nicht öffentlich schämen für einen schmollenden Bischof, der verbal um sich schießt. Das wäre ungehorsam. Pluralismus, Emanzipation, Selbstbestimmung, dafür ist hier tatsächlich kein Platz – nicht einmal Bischofskollegen wagen eine Korrektur.
Müllers neuester Vorstoß exemplifiziert einmal mehr die Richtung, die der Katholizismus verfolgt. Es ist die Abkehr von der Aufklärung und die Hinwendung zu einer Unbedingtheit im Glauben, die kritisches Denken, ein Beurteilen der Kirche und mithin selbstständiges Denken ausschließt. Diese Haltung weist Gemeinsamkeiten mit dem fundamentalistischen Glauben der Evangelikalen auf, die in den USA politisches Gewicht haben – in Deutschland treten sie außer in Splitterparteien allerdings kaum in Erscheinung.
Ihre moraltheologischen Positionen sind im Wesentlichen deckungsgleich mit den katholischen, sei es bei der Präimplantationsdiagnostik, sei es beim vorehelichen Geschlechtsverkehr. Während die evangelischen Landeskirchen liberaler agieren und dem Individuum deutlich mehr Entscheidungsbefugnisse zubilligen, sieht der Glaube der Evangelikalen die totale Subordination unter das Bibelwort vor. Ähnlich verhält es sich bei der katholischen Kirche, wobei sie ihre Dogmen und sich selbst als Instanzen betrachtet, denen sich der einzelne zu überantworten hat, will er Heil erfahren. Diese Kirche missioniert nicht nur für das Evangelium, sondern für sich selbst.
Diesen Kurs hat der nun seliggesprochene Johannes Paul II. eingeschlagen, und Benedikt XVI. führt ihn konsequent fort. In einer Synopse aus Joseph Ratzingers Schriften von Paolo Sottopietra, dem Generalvikar der römischen Priesterbruderschaft San Carlo Borromeo, wird diese Haltung in aller Klarheit dargestellt. Erschienen ist Sottopietras Aufsatz „Joseph Ratzinger – Neo-Aufklärer“ mit dem Untertitel „Die Aporien der neuzeitlichen Vernunft und der christliche Weg“. Es handelt sich um die Abrechnung mit einer Philosophie, die – fußend auf Wissenspragmatismus – für sich Vernunft reklamiert, einer Philosophie, die ohne Gott auskommt, die sagt: Glauben heißt – nicht wissen. Ratzingers Ausgangspunkt ist ein anderer: Das Wissen kommt ohne Glauben nicht aus.
Er weiß Bischöfe hinter sich, die dieses Prinzip der Desäkularisierung verinnerlicht haben und predigen. Die heutige Bildungsgesellschaft muss damit zwangsläufig ein Problem haben. Es bringt den denkenden Menschen mehr denn je in ein Dilemma: Wie soll man Geistlichen folgen, die wenig reflektiert Luthers Wort vom Antichrist an die Wand malen? Sicher waren die Missbrauchsfälle in der Kirche der Hauptgrund für die zahlreichen Kirchenaustritte in der letzten Zeit – allein der katholischen Kirche sollen im vergangenen Jahr etwa 180 000 Menschen den Rücken gekehrt haben.
Eine weitere Ursache ist aber auch dieses Ratio-Fides-Dilemma, in das gerade gebildete Kreise manövriert werden. Im Jahr 1962 stand im Religionsbuch der bayerischen Gymnasien noch „Gehorche deiner Kirche!“ und „Halte deiner Kirche die Treue!“ Damals, vor 1968, lag die Abiturientenquote bei etwa sechs Prozent. Heute liegt sie bei weit über vierzig Prozent, und die Deutsche Bischofskonferenz will im selben Duktus wie damals ihr akademisches Lehrpersonal wieder auf „Kirchlichkeit“ trimmen.
Eher seltsam wirken die Versuche, die gleichzeitig manche Bistümer unternehmen, um neuen Anhang zu rekrutieren. Die Zahl der Taufen ist von 300 000 im Jahr 1990 auf 180 000 zwanzig Jahre später zurückgegangen. Ließe sich diese Entwicklung noch mit dem demographischen Wandel begründen, so ist der Rückgang bei katholischen Trauungen im gleichen Zeitraum von 117 000 auf 49 000 noch aussagekräftiger.
Der Dezimierung des Nachwuchses begegnet man nun mit der sogenannten Neuevangelisierung – auch das geht auf Johannes Paul II. zurück. Die Erfolge beschränken sich auf Einzelfälle. Die Grundsätze der Public Relations gebieten, dass solche Erwachsene dann gerne im Festgottesdienst der Osternacht getauft werden. Über Absagen von Leuten, denen die Institution zu starr und die Hierarchen zu unglaubwürdig sind, teilt die Kirche natürlich nichts mit. Was gute PR ausmacht, weiß sie längst.
Und gelernt hat sie auch von den aus ihrer Sicht manichäischen christlichen Gruppen, die sie früher belächelten, die aber Zulauf haben wie die Evangelikalen oder die zumindest kaum Verluste zu beklagen haben, eben wie die evangelischen Freikirchen. Viele Pfarreien bieten neben ihren üblichen Gottesdiensten Hauskreise an, wie die Konkurrenz von der evangelikalen Fraktion sie organisieren. Nebenbei versucht man mit den erbauenden Bibelexegese-Stunden im Wohnzimmer die Folgen des Priestermangel zu lindern. Ihre Laien können sich auf Bibelwochenenden und einer Art Theologie-Crashkursen fortbilden – auch das war vor gut fünfzig Jahren noch kaum denkbar.
Viele katholische Pfarrer machen sich sogar das auf das Urchristentum rekurrierende Logo der Evangelikalen zu eigen, den Fisch. Er klebt auf dem Kofferraumdeckel und soll symbolisieren, dass ein bekennender Christ vorne am Steuer sitzt. Das wirkt bei einem Pfarrer, der für seine Kirche eigentlich mit dem Kreuz werben müsste, wie Etikettenschwindel, es soll demonstrieren: Hey, wir sind offen! Ihren Nachteil gegenüber den Evangelikalen können sie damit nicht aufwiegen. Er besteht eben, wieder, in der Institution selbst, in ihrem Klerikalabsolutismus, aber auch in zeitfremden Liturgieformen und -formeln.
Dass der Antichrist wieder aufs Tapet kommt – wenn auch nur auf Luther bezogen –, dass Prälaten wieder offen mit Ablässen werben, ja dass manche Pfarrer wieder gegen den Satan beten – auch das passt ins römisch-katholische Kalkül. Antipoden wie der Teufel und Dämonen machen nicht nur das Leben einfach, sie simplifizieren auch den Glauben: Man kann sich zwischen Gut und Böse entscheiden, zwischen Paradies und Verdammnis in der Hölle. Um solche Geschichten zu erzählen, ist keine Liturgie nötig. Viele evangelikale Gruppen, vor allem die Pfingstgemeinden, punkten damit gewaltig, wenn auch vorerst nur in Lateinamerika, Afrika und den USA.
In der Nähe von Regensburg, einem Dorf namens Aufhausen, gibt es einen jungen katholischen Orden, der die pfingstkirchlichen Methoden übernommen hat, Gebetsnachmittage mit Glaubenszeugnissen, Visionen und frommen Theaterszenen veranstaltet. Selbstverständlich wird auch gegen den Teufel und das Fegefeuer gebetet.
Benedikt XVI. selbst begrüßt diese Ausformungen, die bei uns früher unter Volksfrömmigkeit subsumiert wurden: Gewiss, sagt er, die Volksfrömmigkeit tendiere zur Irrationalität. „Sie zu ächten ist dennoch ganz verkehrt. In ihr ist der Glaube in das Herz der Menschen eingetreten, ist Teil ihres Empfindens.“ Selbstverständlich sind ihm Fanatiker lieber als Gläubige, die manchmal zweifeln oder gar hadern. Oder gar Theologen, die Reformen für seine Kirche fordern, wie die Professoren, die tiefgreifende Veränderungen in einem Memorandum zusammengefasst haben.
Recht klar fasst den Wandel der katholischen Corporate Identity der Kölner Kardinal Joachim Meisner zusammen: Die Kirche habe ihre Glaubensverkündigung zu horizontal auf den Menschen ausgerichtet, sagt er: „Komm, du brauchst nur deinen Nächsten lieben, dann ist alles in Ordnung. Was darüber hinaus noch verkündet wird, ist alles zweitrangig.“ Diese auf die Moral abzielende Botschaft war nach Ansicht Meisners überbewertet. „An erster Stelle steht aber das Gebot der Gottesliebe“, sagt er, „und dann kommt das der Menschenliebe.“ Hier entdeckt die katholische Kirche die Theozentrik ihres einstigen Gegenspielers Martin Luther.
RUDOLF NEUMAIER
Zuletzt geändert am 06.05.2011