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Veröffentlicht am 01­.04.2011

Herder Korrespondenz Spezial 1-2011, Pastoral im Umbau

Vor der Aufgabe der Neugründung

Die Kirche in sich wechselseitig verstärkenden Krisen

Michael N. Ebertz

Die durch den Missbrauchsskandal ausgelöste moralische Statuskrise verstärkt eine Vielzahl von Krisendimensionen. Deren Zusammenwirken macht erst das wahre Ausmaß der Herausforderungen an eine zukunftsfähige Pastoral aus. Umgekehrt schwächen hausgemachte Strukturkrisen die Chancen, die anderen Krisendimensionen als Herausforderungen zu bearbeiten.

Zweifellos hat das Jahr 2010, in dem auch das „Jahr des Priesters" zu Ende ging, in Deutschland eine zutiefst irdische, wenn nicht unterirdische Kirche vor Augen gestellt. Die Skandale und Skandalisierungen der sexuellen Gewalthandlungen von Priestern und Ordensmännern an Kindern und Jugendlichen legten allerdings mehr als moralische Verfehlungen offen. In einem für jeden Skandal typischen Dreischritt von - wirklicher oder bloß unterstellter - moralischer Verfehlung hochgestellter Personen oder Institutionen, attraktiver und zugleich abstoßender Enthüllung und einer spontanen Bewegung der kollektiven Entrüstung oder Empörung, die den Skandalversuch erst zum Skandal werden lässt (vgl. Karl Otto Hondrich, Enthüllung und Entrüstung, Frankfurt 2002), eröffnete sich ein Einblick: sowohl in eine Art „Unterwelt" der Kirche, ein „Schattenreich von normativ nicht gedeckten" Handlungen, als auch in die Tiefe der moralischen Ordnung unserer Gesellschaft selbst.

Versucht man Ausmaß und Auswirkung jener Skandalisierung des Jahres 2010 zu bestimmen, so demonstrierte sie vor unser aller Augen die Macht der gesellschaftlichen Moral, ja die Vormacht dieser profanen Moral über die Kirche. Damit wurde massiv der gesellschaftliche Status der Kirche verschoben, insbesondere der vom Klerus repräsentierten „Priesterkirche". Das erhebliche Zivilisationsversagen, das auch noch durch eine unterstellte oder tatsächliche Opferunempfindlichkeit, durch sekundäre Viktimisierungen und durch eine unterstellte oder tatsächliche Schuldunempfindlichkeit kirchlicher Institutionsvertreter bekräftigt wurde, paarte sich noch mit einer „moralischen Lethargie" aus Kirchenräson (Franz-Xaver Kaufmann, Kirchenkrise, Freiburg 2011).

Sie manifestierte sich darin, dass sich hohe Geistliche den Vorwurf der mangelhaften Affekt- oder Selbstkontrolle, gar der öffentlichen Lüge oder der Vertuschung gefallen lassen müssen, wenn zum Beispiel Aktenverstümmelungen und Aktenvernichtungen in den Bischöflichen Ordinariaten zu Tage gefördert werden oder Freundschaften allerhöchster geistlicher Autoritäten mit geistlichen Sexualstraftätern wie dem Gründer der Legionäre Christi einer Damnatio Memoriae unterworfen werden.

Die Kirche ist mit der Skandalisierung dieser Handlungen ihrer „Unterwelt" durch die Macht der gesellschaftlichen Moral in eine schwere gesellschaftliche Statuskrise geraten. Indem diese die Vertreter der Kirche zum „demütigenden Kotau" gezwungen hat, indem alle, ob hoch oder niedrig, sich zu ihr bekennen, Schuld eingestehen, um Vergebung bitten, Reue bekunden, Besserung geloben, zeigt sich die gesellschaftliche Moral - und nicht die der Kirche - als „die Supermacht der demokratischen Gesellschaft" (Karl Otto Hondrich). Somit hat sich seit 2010 die Grundarchitektur zwischen Kirche und Gesellschaft im öffentlichen Raum massiv zuungunsten der Kirche verschoben.

Arbeit am Vertrauen als eine der fundamentalsten pastoralen Grundaufgaben

In diesem Sinne ist die Kirche, die sich in Gestalt ihres hohen Klerus immer wieder kulturpessimistisch über die profane Moral erheben konnte, immer weniger eine Kirche des Volkes oder für das Volk. Jedenfalls scheint sie dabei zu sein, sich als eine solche „Volkskirche" in der deutschen Gesellschaft zu verabschieden. Tatsächlich berührt und verstärkt diese aktuelle moralische Statuskrise eine Vielzahl von Krisendimensionen, deren Zusammenwirken erst das wahre Ausmaß der Herausforderungen der Pastoral ausmacht, das viele der Verantwortlichen in der Kirche noch gar nicht begriffen zu haben scheinen.

Eines der Fundamente der Kirche und ihres pastoralen Sendungsauftrags heißt Vertrauen. Denn die Verkündigung der religiösen Botschaft, darauf verweist Hartmann Tyrell, hat ja zum einen „Unerhörtes", „kaum Glaubliches", „Worte des ewigen Lebens" zum Thema. Hinzu kommt, dass diese Botschaft auch noch einen „Wahrnehmungsmangel" hat. Die Menschwerdung Gottes, die Wiederkunft Christi, Himmel, Hölle, Fegefeuer sind nicht durch sinnliche Wahrnehmung bestätigbar. Und dieser der religiösen Kommunikation anhaftende Mangel sowie das Unglaubliche, was sie gleichwohl zu glauben empfiehlt, muss kompensiert werden. Dies geschieht unter anderem durch Vertrauen, weshalb die Arbeit am Vertrauen (und die Verhinderung von Misstrauen) eine der fundamentalsten pastoralen Grundaufgaben darstellt und eine der wichtigsten Voraussetzungen der Rezeption und Akzeptanz der Kommunikation der frohen Botschaft ist.

Wie auch neueste Umfrageergebnisse zeigen, ist die katholische Kirche, hausgemacht, weiter in die Vertrauenskrise geraten, die vermutlich so schnell nicht zu überwinden sein wird. Vertrauen meint hier nicht Personenvertrauen, sondern Institutionsvertrauen und damit die Unterstellung, dass Vorkehrungen (der Personalauswahl, der Kontrolle, der Korrektur) getroffen werden, die dazu führen, dass sich die Beteiligten weitgehend normgerecht verhalten. Die Vertrauenskrise umfasst freilich auch das Verhältnis der Gläubigen zu den Geistlichen, berührt aber auch die Institution der Beichte, die zwar das Geständnis des Kindesmissbrauchs als schwere Sünde kennt, nicht aber eine Wiedergutmachung dem Opfer gegenüber, wie jüngst Franz-Xaver Kaufmann betonte.

Die Identitätskrise der Kirchenmitglieder hat sich verschärft

Damit ist auch eine Identitätskrise der Kirchenmitglieder verschärft und bei manchen erst ausgelöst worden, denn der konfessionelle Teil ihrer Antwort auf die Frage, wer sie sind, kann nicht mehr „scham-los" gegeben werden: Ich bin katholisch. Inzwischen kann jeder damit rechnen, dass bei diesem Bekenntnis, wie in der griechischen Tragödie, der gesellschaftliche „Chor" in Gelächter ausbricht. Das Versagen einer Institution hat nun auch die soziale Identität selbst vieler in ihr hoch engagierter Personen - Kleriker, hauptamtliche wie ehrenamtliche Katholikinnen und Katholiken - schwer beschädigt. Das Stigma der Institution kann zum sozialen Stigma der Personen, ihrer Mitglieder, werden.

Dabei gibt es in der modernen Gesellschaft Alternativen zum christlichen Engagement in der katholischen Kirche wie zum Katholischsein überhaupt, wenn dieses als dissonant erlebt wird. Die Austrittsbereitschaft wächst dementsprechend und der Austritt wurde von einigen unmittelbar vollzogen, ohne damit automatisch Abschied vom (kirchlichen) Christentum zu nehmen. Andere unter den verbleibenden Mitgliedern der Kirche fragen sich, ob sie nicht Schuld auf sich geladen haben. Waren und sind sie doch Mitwissende, die aber ein Kommunikationstabu eingehalten haben, das in der Kirche gilt, nämlich über Fehler und Schwächen ihres Führungspersonals zu schweigen.

Aber auch hier verweist die Diagnose weg von der persönlichen Schuld der häufig ja auch materiell abhängigen Mitwissenden hin zum institutionellen, zum strukturellen Defekt. Denn die Institution Kirche sieht kaum Verfahren, also geregelte Wege vor wie moralische Sachverhalte und andere Konfliktthemen lösungsorientiert zu bereden und zu bearbeiten sind. Wenn die Möglichkeit des institutionalisierten Einspruchs verwehrt oder erschwert bleibt, wenn also keine ernsthaften Chancen eröffnet werden, seine kritische Stimme zu erheben, wird die Austrittsneigung wachsen, was sozialwissenschaftliche Studien nahelegen.

Die jüngste Stellungnahme von christlichen Politikern zu Zölibat und „Viri probati", das Memorandum der Theologen, die Petition „Pro Ecclesia" und all die anderen öffentlichen Aussagen in lokalen und überlokalen Medien zeugen ebenso auch von einer Verständigungs- und Verfahrenskrise wie die teilweise unzivilisierten, gewalttätigen - etwa auf „kreuz.net" oder „kath.net" gepflegten - Redeweisen in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen. Konflikte sind in einer rein hierarchischen Organisation, die nur Befehl und Gehorsam kennt, nicht vorgesehen, und ihre Bearbeitung durch „Dialog" schon gar nicht.

Weil es solche Vorgaben nicht gibt und solche prozeduralen Methoden unter den Bischöfen nicht vereinbart, keine Verfahrensregeln verbindlich beschlossen wurden, ist der Vielfalt der Interpretation des Dialogaufrufs Tür und Tor geöffnet. Alle Akteure in der Kirche entscheiden deshalb darüber, was sie unter „Dialog" verstehen und nicht verstehen, ob sie ihn führen wollen oder nicht, welche Themen sie behandeln wollen, über welche konkreten Sachverhalte sie reden wollen und in welchem Stil sie sich an ihm beteiligen wollen.

Die Krisenbewältigung wird selbst zum Problem

Es kommt deshalb nicht von ungefähr, dass die derzeitige Phase des so genannten Dialogprozesses wildwüchsige, geradezu kakophone Ausmaße angenommen hat. Angesichts dieser ja auch im öffentlichen Raum wahrnehmbaren innerkirchlichen Kakophonie wird die ursprüngliche Absicht, mit dem Dialogprozess die vielfältige Kirchenkrise zu bearbeiten, ins Gegenteil gewendet. Was als Krisenbewältigung gemeint war, könnte nun selbst zum Problem werden.

Ein ungeordnet ablaufendes „Dialogisieren" steigert die öffentliche Krisenwahrnehmung einer Kirche, die ja auch an ihrer römischen Spitze in der jüngeren Zeit durch „peinliche Kommunikationsmängel" (Franz-Xaver Kaufmann) auf sich aufmerksam machte. Offensichtlich schließt die hierarchische Struktur der Kirche Schwächen in Koordination und Kommunikation in der römischen Kurie ebenso wenig aus wie auf der Ebene der nationalen Bischofskonferenzen und innerhalb einer Diözese. Heißt die Skandalbotschaft des letzten Jahres, dass die konkrete Kirche den moralischen Ansprüchen der Gesellschaft nicht gerecht geworden ist, droht die Botschaft von 2011 zu lauten, dass sie den zivilisierten Ansprüchen einer ernsthaften kommunikativen Auseinandersetzung mit ernsthaften Themen hinterherhinkt.

Die aktuelle Krise berührt und verstärkt insbesondere die -Autoritätskrise, die das Lehramt der Kirche spätestens seit der Enzyklika „Humanae vitae" (1968) erfahren hat. Die Zu-stimmung zu den kirchenoffiziellen Positionen in Fragen der Sexualität (13 Prozent), der Empfängnisverhütung (9 Prozent) und zum Umgang mit Homosexuellen (17?Prozent) ist, so der neueste Trend-monitor zur religiösen Kommunikation, weiter gesunken, und die Unzufriedenheit in diesen vitalen Fragen des Lebens, in denen jeder seine eigene Expertise beansprucht, kann größer kaum sein (vgl. HK, Juli 2010, 344 ff.).

Die „Katholikenkörper" scheinen sich nun endgültig den kirchlichen Kontrollansprüchen entzogen zu haben, obwohl die römisch-katholische Kirche - im Unterschied zu vielen evangelischen Landeskirchen in Deutschland, welche die Sexualität ihrer Mitarbeiter und Mitglieder weitgehend freigelassen haben - nicht nur ihr klerikales Hauptpersonal (Zölibat) und die Ordensleute (Keuschheitsgelübde) mit sexuellen „Abweichungszumutungen" belegt: Für alle Kirchenglieder gilt das Homosexualitätsverbot, für die Eheleute das „Pillenverbot" und für die Unverheirateten das Geschlechtsaktverbot.

Dabei setzt die Kirche auf den Gehorsamswert, dessen Nicht-Befolgung eine Vertuschungspraxis zur Folge hat. Auch die Zölibatsverpflichtung des Priesters, die im Zuge der aktuellen Skandale und Skandalisierungen wieder einmal problematisiert wird, findet kaum mehr Rückhalt unter den befragten Katholiken und wird von ihnen offensichtlich nicht mehr als ein Moment des Autoritätsgewinns, sondern der Autoritätsschwächung erlebt.

Aber nicht nur „in rebus sexualibus" zeigt sich und beschleunigt sich eine Normenkrise der Kirche. So ist die Anzahl derer, die „jeden" oder „fast jeden Sonntag" in die Kirche gehen, laut Trendmonitor weiter auf 24 Prozent geschrumpft und diejenigen, die nur „ab und zu" oder „selten" praktizieren, stellen inzwischen die Zweidrittelmehrheit (65 Prozent) der deutschen Katholiken. Zusammen mit den elf Prozent „Niegängern" verstoßen somit drei Viertel der deutschen Katholiken Woche für Woche gegen ein elementares Kirchengebot, das sie möglicherweise gar nicht mehr kennen und das ihnen wohl auch kaum mehr - argumentierend, lockend oder drohend - in Erinnerung gebracht wird. Es wächst also die Kluft zwischen kirchenoffiziellem Anspruch und der Urteils- und Handlungspraxis der Katholikinnen und Katholiken, was sich auch noch in anderen Hinsichten zeigen ließe.

Im Übrigen gibt in einschlägigen Umfragen nur jeder dritte Katholik derzeit zu erkennen, dass ihn Gottesdienste und kirchliche Feiern ansprechen. Und die Teilnahme an der Eucharistiefeier, die in der offiziellen Kirche bekanntlich zum Höhepunkt und Quell allen kirchlichen Lebens gesteigert wird, gilt gerade einmal jedem fünften Katholiken als Kraftquelle.

Immer weniger Katholiken erwarten von der Kirche Antworten auf ihre Sinnfrage; die Kirche gilt unter ihren Mitgliedern kaum mehr als erfahrbarer Ort der Sinnstiftung. So stößt man auf den Befund, dass da, wo die offizielle Kirche vorgibt, stark zu sein, dies die befragten Katholiken ganz anders sehen: Nur jeweils zwischen 10 und 20 Prozent von ihnen geben an, dass in der Kirche relevante Wertorientierungen (vor)gelebt, hilfreiche Glaubensgespräche geführt oder Formen der Gemeinschaft erlebt werden, die man sonst nicht findet. So wenige sind es auch, die von sich sagen, in der Kirche eine Heimat für ihre Seele und Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens zu finden. Die Rede von Kirche als Ort von Heilung und Heil, von Kirche als erfahrbare Reich-Gottes-Praxis, erhält über diese Daten kaum Bestätigung.

Immer mehr - auch und gerade ältere - Katholiken in Deutschland folgen einem immanenten Weltbild. Der weitgehende Zusammenbruch des Glaubens an ein Leben nach dem Tod dürfte im Zusammenhang stehen mit der Erosion des Glaubens an Himmel, Hölle, Fegefeuer, wobei die Erosion dieser Trias vom Niedergang der Hölle ausgeht, die ihrerseits mit dem Wandel des Zivilisationsniveaus und unserer Einstellung zur Gewalt zusammenhängt.

Die Sinnstiftungskrise, die auch auf eine massive eschatologische Krise verweist, geht mit einer Vergemeinschaftungskrise einher, die sich auch in einem soziodemographisch recht einseitigen Profil der Kirchgänger manifestiert. Die neueste Auswertung der Daten des „Sozio-ökonomischen Panels" zeigt: Es „gehen ältere, verheiratete und verwitwete Personen", Leute „mit Kindern sowie Personen mit einem niedrigen Bildungsniveau und einem geringen Erwerbsumfang überdurchschnittlich häufig in die Kirche" (Daniel Lois, Wie verändert sich die Religiosität im Lebensverlauf, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 63 [2011">).

Und die Vergemeinschaftungskrise spitzt sich zu einer Männerkrise zu: ist im Laiensegment katholische Kirchlichkeit doch zu gut zwei Dritteln weiblich, während unter den als „nicht religiös" identifizierbaren und „kirchlich distanzierten" Katholiken Männer dominieren. Man wird die Augen vor einer starken Feminisierungstendenz im Kirchenverhältnis der katholischen Laien nicht verschließen können.

Dies gilt auch im Blick auf eine weitere Krisendimension: die Tradierungskrise. Obwohl sich inzwischen auch innerhalb der ältesten Generationen von Katholiken erhebliche Kirchendistanzen abzeichnen, hat sich in den letzten zehn Jahren die Kluft zwischen den Generationen unter den Katholiken weiter vertieft. Sind es laut Trendmonitor 2009 unter den Generationen „60 plus" noch 31 Prozent, die sich als „gläubige Kirchennahe" selbst beschreiben, finden wir diesen Typ nicht einmal mehr im Umfang von fünf Prozent unter den 16- bis 29-Jährigen. Für die Mehrheit der jungen Katholiken ist die Pfarr- oder Kirchengemeinde schlicht irrelevant und die Kirche selbst nur noch ein Kasualien-Produzent. Und der Kasualien-Faden droht leicht zu reißen, befindet sich doch unter den „Kasualien-Frommen" ein erheblicher Anteil von Katholiken, die schon einmal an Kirchenaustritt gedacht haben.

Starke Feminisierungstendenz

Damit reduziert sich auch das Reservoir, spezielles kirchliches Personal für die männliche Priesterschaft zu gewinnen. Freilich hängt diese Personal- oder Rekrutierungskrise auch mit anderen Faktoren, etwa der Zölibats- und der Bildungsschranke, aber auch mit dem demographischen Wandel zusammen; denn in den an Kinderzahl kleinen Familien sinkt schlicht die absolute Zahl von Jungen, die als künftige Kleriker in Frage kämen. Dieser Engpass ist schon seit Jahrzehnten ebenso absehbar wie die wachsende Überalterung des Klerus.

Schließlich führt die teilweise hausgemachte Personalkrise auch zu einer pastoralen Strukturkrise, nämlich zu einem weitgehenden „Zusammenbrechen des milieuchristlich geprägten Betriebssystems" der Kirche (Christian Hennecke, Kirche, die über den Jordan geht, 4. Auflage, Münster 2010), zumal wenn es sich an die massiv fallende Zahl von Pfarrern bindet und damit den Umfang der pastoralen Räume dehnt. Auch an den neuen pastoralen Räumen, die in allen deutschen Bistümern unterschiedliche Namen tragen, wird Krise erlebbar, dass also fraglose Gewissheiten, Orientierungen und Handlungsroutinen zusammenbrechen und dass das, was gestern war und galt, nicht mehr ist und gilt.

Diese ebenfalls hausgemachte Strukturkrise schwächt ihrerseits die Chancen, die anderen Krisendimensionen als –Heraus- forderungen zu bearbeiten: die Personalkrise, die Tradierungskrise, die Vergemeinschaftungskrise, die Normenkrise, die Sinnstiftungs-, die Autoritäts- und die Identitätskrise der Kirche und ihre fundamentale Vertrauens- und Statuskrise.

Zudem drängt sich der Eindruck auf, dass hierzulande kaum Konsens besteht, wie auf diese „Kirchenkrise" zu reagieren und der Kirchenkurs zu bestimmen sei. Damit wird die Vielzahl der Krisendimensionen noch durch eine Strategiekrise gesteigert. Eine der derzeit kursierenden und konträren Optionen plädiert für eine lernende Kirche. Allerdings gibt selbst sie kaum Anlass zur Euphorie. So hat bereits vor Jahren der niederländische Soziologe Leo Laeyendecker gerade der katholischen Kirche eine „beschränkte Lernfähigkeit" bescheinigt (Die beschränkte Lernfähigkeit der Kirchen, in: Kristian Fechtner u. a. [Hg.">, Religion wahrnehmen, Marburg 1996, 103 ff.). Er führt diese Diagnose auf festgeschriebene Rollenstandardisierungen, auf eine selektive, nämlich konformistische Rekrutierung des Personals, auf seine verstärkte Disziplinierung, auf ein gesteigerte Zentralisierung kirchlicher Entscheidungsprozesse, auf eine Sakralisierung kirchlicher Organisationsstrukturen, auf eine fehlende Kultur der Kritik und auf einen organisationskulturell angelegten Mangel an Offenheit zur „Kombination (…) von festzuhaltendem und zu änderndem Wissen" zurück.

Letztlich mündet die Analyse Laeyendeckers in der fehlenden aktiven Anpassungsfähigkeit der Kirche an die moderne Gesellschaft, die völlig neuartige Herausforderungen an ihre strukturelle Tradition stellt. Laeyendecker gibt selbst zu bedenken, dass man wohl „nicht mit vollem Ernst behaupten" können, „eine kirchliche Organisation mit einem Lebensalter von 2000 Jahren besäße keine Lernfähigkeit. Ihre heutige Form ist ja gerade das Resultat eines Lernprozesses, der in vielerlei Hinsicht auch außerordentlich gut gelungen ist. Aber das Problem liegt anderswo. Es bezieht sich auf ein Paradox. Der Erfolg dieses gelungenen Prozesses steht einem neuen und radikalen Lernen im Wege. Die alten Methoden genügen den veränderten Umständen nicht länger. Die Kirche ist also das Opfer ihres Erfolgs. Sie leidet an ‚trained incapacity' (Veblen). Ihre Lernfähigkeit ist zwar nicht völlig verschwunden, aber doch beträchtlich eingeschränkt worden." Ihr größtes Hindernis dürfte dabei das „Modell strikter Hierarchie" sein, dem „das Fehlen von Vorkehrungen zum Lernen" (Franz Xaver Kaufmann) inhärent ist. Zentralistische Hierarchien sind der Komplexität der Weltverhältnisse immer weniger gewachsen. Und ein Global Player wie die Kirche, die Kirchenkrisen in einer Region durch Kirchenwachstum in anderen Weltregionen ausgleichen kann, ist zum Lernen kaum gezwungen.

Wir Christen stehen tatsächlich vor einer Neugründungsaufgabe

Es wächst damit die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Kirche auch in eine Steuerungs- und Lernkrise hineinmanövriert, das heißt sich nicht so auf Umweltbedingungen einstellt, dass sie ihre Überlebenschancen mehrt. Nimmt man die Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils, dass „die Menschheit in einer neuen Epoche ihrer Geschichte steht (GS 4), dann wird man zugleich an eine vor beinahe 55 Jahren gemachte Aussage Helmut Schelskys erinnert, man habe die Lage des Christentums in der modernen Gesellschaft oft mit der Formel zu begreifen versucht, „dass das Christentum sich heute einem neuen Heidentum in der modernen Welt (…) gegenübersähe; diese Pa-rallele übersieht aber", wie Schelsky bemerkte, „dass heute mit dem Christentum keine neue Wahrheit in eine alte Welt kommt, sondern sich eine alte Wahrheit gegenüber einer neuen Welt behaupten muss."

Daraus erwachsen Christentum und Kirchen, so Schelsky weiter, die „Aufgabe, ihre ewige Wahrheit in veränderten, weltlich autonom gewordenen Sozialstrukturen neu zu gründen" und „eine neue soziale Gestaltung der Heilswahrheit zu finden". Wir Christen stehen tatsächlich vor einer solchen Neugründungsaufgabe, vor einem gewaltigen Refounding-Prozess der Kirche.

Michael N. Ebertz

Prof. Dr. Dr. Michael N. Ebertz (geb. 1953) ist Privatdozent an der Universität Konstanz und Professor an der Katholischen Hochschule Freiburg. Zahlreiche Publikationen zur Kirchen- und Pastoralsoziologie, zuletzt unter anderem: Quo vadis Kirche? Wie kann die katholische Kirche wieder glaubwürdig werden? Vortrag auf dem Studiennachmittag für Religionslehrkräfte am 13. Juni 2010, herausgegeben vom Bischöflichen Generalvikariat Hildesheim, Hildesheim 2010.

Dieser Beitrag ist erschienen in: Herder Korrespondenz Spezial 1-2011, Pastoral im Umbau, S. 2-6.
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Zuletzt geändert am 09­.05.2011