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Veröffentlicht am 12­.01.2012

12.1.2012 - hpd

Bistum (Hildesheim) ignorierte Leitlinien

BRAUNSCHWEIG. (hpd) Der Pfarrer aus Salzgitter, dem sexueller Missbrauch in 280 Fällen vorgeworfen wird, steht ab heute in Braunschweig vor Gericht. Dem 46-Jährigen drohen zwischen zwei und fünfzehn Jahren Haft. Er hat die Taten heute in vollem Umfang eingeräumt.

Besonders tragisch an dem Fall ist, dass die Mutter des ersten Opfers das Bistum Hildesheim bereits 2006 gebeten hatte, es möge Andreas L. den Kontakt zu ihrem Sohn dienstrechtlich untersagen. Zu diesem Zeitpunkt soll der Priester das Kind bereits zwei Jahre lang schwer missbraucht haben – über 200 Mal. Nach Darstellung des Bistums soll damals aber von sexuellem Missbrauch „ausdrücklich” noch nicht die Rede gewesen sein. Die Familie habe „den freundschaftlichen Kontakt als zu intensiv und distanzlos” empfunden. Den „freundschaftlichen Kontakt” zu seinem Opfer und dessen Mutter, einer Witwe, soll L. bereits ab 2002 im Zuge der Kommunionsvorbereitung aufgebaut haben. Ab 2004 soll der Junge dann mehrmals am Wochenende bei dem Pfarrer übernachtet haben, auch in den Urlaub hatte der L. den Jungen mitgenommen. Davon will das Bistum aber erst 2010 erfahren haben.

Ab 2006 freundete sich L. mit einer weiteren Familie und deren zwei Söhnen an. Das Schema war wieder das gleiche: Der Kontakt kam über die Kommunionsvorbereitung zustande. Die Kinder besuchten den Pfarrer zu Hause. Es gab gemeinsame Urlaube im In- und Ausland. Ab 2007 soll L. die Jungen 34 Mal missbraucht haben. Noch im März 2011 buchte der Pfarrer für sich und sein jüngstes Opfer einen vierzehntägigen Urlaub in der Dominikanischen Republik. Zu dem Urlaub sollte es allerdings nicht mehr kommen.

2010, im Zuge des Missbrauchsskandals, hatte sich die Mutter des ersten Opfers zum zweiten Mal an das Bistum Hildesheim gewandt. Erst zu diesem Zeitpunkt will man dort von den gemeinsamen Urlauben erfahren haben. Von sexuellem Missbrauch sei aber weiterhin „ausdrücklich” nicht die Rede gewesen.

Trotzdem gab das Bistum 2010 den Fall – in anonymisierter Form – an die Staatsanwaltschaft zur Begutachtung. Mangels einer eindeutig sexuellen Handlung sah diese allerdings damals keinen Anfangsverdacht auf sexuellen Missbrauch. Das Bistum setzte den Pfarrer weiter ein und ließ ihn auch Gruppenreisen mit Minderjährigen organisieren, z.B. nach Taizé in Frankreich.

Als L. im Juni 2011 gegen das Kontaktverbot verstieß, wurde er vom Bistum lediglich noch einmal ermahnt – eine weitere Reise mit Jugendlichen nach Taizé sollte er im Juli wie geplant durchführen.

Aus den Umständen ergibt sich, dass es wohl wieder die Mutter des ersten Opfers war, die sich Mitte 2011 nunmehr zum dritten Mal wegen des Pfarrers an das Bistum gewandt hatte, wegen L.‘s Verstoß gegen das Kontaktverbot. Sie war es auch, die den Pfarrer Ende Juni anzeigte – offenbar reichten ihr die Maßnahmen des Bistums nicht aus.

Nach der Festnahme des Pfarrers versprach das Bistum Hildesheim in einer Pressemitteilung, es werde sich „aktiv an der Aufklärung der Vorwürfe beteiligen”. Direkt danach hieß es allerdings: „Vor einem Jahr wurden dem Bistum Vorwürfe gegen den jetzt verhafteten Pfarrer wegen angeblich distanzlosen Verhaltens gegenüber einer Person bekannt. Daraufhin bat das Bistum die Staatsanwaltschaft, den Verdacht eines etwaigen Missbrauchs zu prüfen. Auf der Basis der vorliegenden Fakten sah die Staatsanwaltschaft damals keinen Anhaltspunkt für einen Anfangsverdacht.“

Von dem „distanzlosen Verhalten” des Pfarrers hatte das Bistum allerdings nicht erst „vor einem Jahr” erfahren, sondern bereits 2006.

2010 hatte sich das Bistum an die Staatsanwaltschaft gewandt, weil der Pfarrer mit einem Kind im Urlaub gewesen war und dabei mit dem Jungen in einem Bett übernachtet hatte. In den Erklärungen des Bistums nach L.‘s Verhaftung hörte sich das allerdings zunächst so an: „Der Personalverantwortliche des Bistums, Weihbischof Heinz-Günter Bongartz im NDR: „Also, diese Hinweise, die dort auch noch mal 2010 an die Staatsanwaltschaft gegeben worden sind, haben sich auf ein freundschaftliches Verhältnis des Pfarrers zu dieser Familie bezogen, das vor 2006 lag. Im Jahre 2006, als es in dieser Familie den Wunsch gab, doch ein distanzierteres Verhältnis zu dem Pfarrer einzunehmen, hat es von unserer Seite aus eine Ansage gegeben an den Pfarrer, dieses Verhältnis nicht mehr weiterhin zu leben.”

Andernorts erklärte Bongartz: „Laut Weihbischof Bongartz hatte sich eine Familie über das „distanzlose Verhalten” des verdächtigen Pfarrers beschwert. Dies habe sich unter anderem in “übergroßen Geschenken” ausgedrückt, so Bongartz.

Wer nach L.‘s Verhaftung die Erklärungen von Weihbischof Bongartz verfolgte, musste glauben, das Bistum habe die Staatsanwaltschaft 2010 wegen eines „freundschaftlichen Verhältnisses” und „übergroßer Geschenke” eingeschaltet. Meinte Bongartz mit den „übergroßen Geschenken” etwa gemeinsame Reisen des Pfarrers mit seinem Opfer?

Gleich nach der Verhaftung fingen Weihbischof Bongartz und der Bistums-Pressesprecher, Dr. Lukas, zudem an, den „schwarzen Peter” der Staatsanwaltschaft zuzuschieben. Bongartz gegenüber L.‘s Gemeinde: „Es gab keine Hinweise auf sexuelle Übergriffe. Beim ersten Verdacht 2010 haben wir die Staatsanwaltschaft informiert. Aber wenn diese und die Polizei nichts machen, kann die Kirche nichts dafür.”

Und Pressesprecher Lukas im Hinblick darauf, dass der Pfarrer weiterhin mit Jugendlichen verreisen durfte: “Was hätten wir tun sollen?”, fragt Lukas, “auf welcher Faktenbasis hätten wir ihm das verbieten sollen?”

„Was hätten wir tun sollen?” – Nun, z.B. in den Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz zum sexuellen Missbrauch von 2002 nachschauen. Darin heißt es unter Punkt VIII. Prävention: „Auch unterhalb der Schwelle strafrechtlicher Handlungen kann es Verhaltensweisen im pastoralen oder erzieherischen Umgang mit Kindern und Jugendlichen geben (z. B. Distanzlosigkeit oder vertrauliche Berührungen), die zu meiden sind. Wenn im Einzelfall Anlass zu der Sorge besteht, dass ein Verhalten auf pädophile Neigung hinweist, wird eine diagnostische Abklärung durchgeführt. Die für die Aus- und Fortbildung Verantwortlichen werden auf Personen zugehen, die ein auffälliges Verhalten zeigen, um persönliche Schwierigkeiten in einem frühen Stadium thematisieren und Hilfen zur Bewältigung einleiten zu können.“

2006 mit der Forderung nach einem Kontaktverbot wegen Distanzlosigkeit konfrontiert, hätte das Bistum also gemäß der Leitlinien bereits eine „diagnostische Abklärung” (sprich: ein Gutachten) über L. einholen können. Später sagte die Staatsanwaltschaft, L. sei möglicherweise durch eine homopädophile Neigung gestört. Vielleicht wäre diese Neigung 2006 bei einem Gutachten bereits entdeckt worden – das hätte zwei weitere Opfer vermeiden können.

Die Leitlinien stellten außerdem seit 2002 klar, dass es nicht nur darum geht, Missbräuche im strafrechtlichen Sinne zu verhindern, sondern auch „Distanzlosigkeit”. Nachdem sich 2006 eine Mutter bereits über L. beschwert hatte, hätte Bongartz ihm also zumindest verbieten können, Kinder bei sich im Pfarrhaus übernachten zu lassen oder alleine mit Kindern zu verreisen. Solche Auflagen machte Bongartz übrigens 2007 einem anderen Pfarrer, Hermann S., als er ihn entgegen der Leitlinien wieder als Gemeindepfarrer einsetzte, obwohl das Bistum von einem früheren Missbrauch S.‘ wusste. S. hatte 1995 einen 12-Jährigen missbraucht – bei einer gemeinsamen Übernachtung.

Das Bistum hat erklärt, 2006 und 2010 sei bei Andreas L. „ausdrücklich” nicht von sexuellem Missbrauch die Rede gewesen. Aber den Missbrauchsexperten dort muss doch klar gewesen sein, dass pädokriminelle Priester ihren Opfern drohen und verbieten, über die Missbräuche zu sprechen. Da immerhin ein Kontaktverbot gefordert wurde und es gemeinsame Urlaube und Übernachtungen gab, hätten die Meldungen der Mutter durchaus als „Hilferuf” wahrgenommen und weitere Nachforschungen angestellt werden können. Die bloße Festellung, es sei damals „ausdrücklich” nicht von Missbrauch die Rede gewesen, entlässt einen kirchlichen Missbrauchsbeauftragten – hier: Weihbischof Bongartz – nicht aus seiner Verantwortung.

Zumal die Leitlinien im August 2010 noch einmal präzisiert worden waren. Jetzt heißt es gleich zu Beginn: „Der Begriff des ‚sexuellen Missbrauchs‘ im Sinne der Leitlinien. 2. Diese Leitlinien beziehen sich auf Handlungen nach dem 13. Abschnitt des Strafgesetzbuchs, soweit sie an Minderjährigen begangen werden. 3. Zusätzlich finden sie entsprechende Anwendung bei Handlungen unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit, die im pastoralen oder erzieherischen sowie im betreuenden oder pflegerischen Umgang mit Kindern und Jugendlichen eine Grenzüberschreitung darstellen.“

Bongartz hätte also das ganze Instrumentarium zur Verfügung gestanden, z.B. die Einholung eines Gutachtens oder die Auflage, nicht mehr mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Die Staatsanwaltschaft ist nur für bereits begangene Missbräuche zuständig – solchen Missbräuchen vorzubeugen, ist Aufgabe des bischöflichen Missbrauchsbeauftragten, und der entschuldigende Hinweis auf die Staatsanwaltschaft („Aber wenn diese und die Polizei nichts machen, kann die Kirche nichts dafür.“) erscheint von dessen Seite äußerst unpassend.

Es bleibt also festzuhalten: Die Warnzeichen waren da. Das Bistum hätte die Möglichkeit gehabt, L. zu einem Gutachter zu schicken und ihm Übernachtungen und Reisen mit Kindern zu verbieten. Obwohl die Leitlinien der Bischofskonferenz von 2002 und auch von 2010 sich ausdrücklich auch auf Verhaltensweisen „unterhalb der Schwelle strafrechtlicher Handlungen”, „Distanzlosigkeit” und „Grenzüberschreitungen” beziehen, stellte sich das Bistum Hildesheim noch 2011, nach der Festnahme L.‘s, auf den Standpunkt, ohne strafrechtlich relevante Übergriffe hätte man nichts tun können.

Nachdem klar wurde, dass L. 280-facher Missbrauch vorgeworfen wird, fragte der NDR Bischof Trelle, was man zukünftig besser machen könne. Die Antwort des Bischofs: „Ich meine, wir sollten in jeder Hinsicht eine Wachheit haben, ein Hinschauen, und dann auch Kindern und Jugendlichen beispielsweise sehr deutlich sagen: Wenn ihr etwas spürt, was nach eurem Empfinden nicht geht, was sich nicht gehört, was nicht schicklich ist, um mal dieses Wort auch zu gebrauchen: Meldet euch!”

Das Problem im Fall L. war freilich nicht, dass das Bistum nichts von L.‘s „unschicklichem” Verhalten gewusst hätte – sondern, dass die Verantwortlichen nicht angemessen darauf reagiert haben.

Matthias Krause

http://hpd.de/node/12669

Zuletzt geändert am 12­.01.2012