28.1.2010: Aufdeckung Canisius-Kolleg
„15 viel zu lange Jahre seit Aufdeckung sexualisierter Gewalt am Canisius-Kolleg“
Wir sind Kirche-Pressemitteilung, München, 20. Januar 2025
Anlässlich des 15. Jahrestages der Aufdeckung sexualisierter Gewalt am Berliner Canisius-Kolleg am 28. Januar 2010 fordert die KirchenVolksBewegung Wir sind Kirche die 27 deutschen Bischöfe und die Ordensleitungen erneut und dringlich dazu auf, ihre Anstrengungen zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt noch zu intensivieren und wirklich angemessene Entschädigungen zu leisten. Nur wenn diese schwere Hypothek des Glaubwürdigkeitsverlustes abgetragen wird, können die in die Zukunft gerichteten Reformschritte des Synodalen Weges in Deutschland und auch die der Weltsynode gelingen.
Im Januar 2010 waren es die mutigen Schritte des damaligen Leiters des Berliner Canisius-Kollegs, des Jesuiten Klaus Mertes, sowie von Matthias Katsch und anderen ehemaligen Schülern der später gegründeten Betroffenenorganisation „Eckiger Tisch“, die den entscheidenden Anstoß gaben, dass das jahrzehntelang vertuschte Ausmaß körperlicher und sexualisierter Gewalt innerhalb der Kirche auch in Deutschland offenbar wurde.
Mühsamer Weg zum „Synodalen Weg“ in Deutschland
Der Skandal sexualisierter Gewalt im Jahr 1995 um den Wiener Kardinal Hans Hermann Groër, der Anlass für das KirchenVolksBegehren und die Gründung von Wir sind Kirche in Österreich war, wie auch der Skandal 2002 in der US-amerikanischen Erzdiözese Boston, Stichwort „Spotlight“, hatten weder dort noch woanders zu einer Befassung mit den tieferliegenden Ursachen geführt. Dies geschah erst in Deutschland.
Der im Jahr 2011 unter Erzbischof Robert Zollitsch, dem damaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), begonnene „Dialogprozess“ als erste Antwort auf die Aufdeckung am Canisius-Kolleg wurde allerdings sehr schnell zu einem unverbindlichen „Gesprächsprozess“ zurückgestuft und endete 2015 ergebnislos. Der Versuch einer ersten bundesweiten Studie zu sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche unter Leitung von Prof. Christian Pfeiffer kam nicht zustande.
Erst die erschütternden Ergebnisse der im Auftrag der DBK erstellten MHG-Studie im Herbst 2018 führten dazu, dass die deutschen Bischöfe Ende 2019 das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) baten, in gemeinsamer Verantwortung den „Synodalen Weg“ außerhalb des Kirchenrechts in Deutschland zu starten. Doch dieser wegweisende Ansatz wurde viel zu lange vom Vatikan misstrauisch beäugt und behindert.
Uneinige Bischofskonferenz
Dass vier der 27 deutschen Bischöfe (Woelki, Voderholzer, Oster, Hanke)die Weiterführung des „Synodalen Weges“ in Deutschland im „Synodalen Ausschuss“ und dessen Finanzierung verweigerten, ist ein Vertrauensschaden für die ganze katholische Kirche in Deutschland und auch eine Schwächung gegenüber dem Vatikan. Selbst nach den konstruktiven Gesprächen deutscher Bischöfe im Jahr 2024 in Rom und dem ermutigenden Abschluss der Weltsynode sind diese vier Bischöfe bedauerlicherweise bei ihrer Haltung geblieben.
Mit ihrem Ausscheren zeigen diese vier Bischöfe, was sie von „Synodalität“ in der Kirche halten. Denn entsprechend dem von der Synodalversammlung beschlossenen Handlungstext „Synodalität nachhaltig stärken“ sollte der Synodale Ausschuss aus den 27 Diözesanbischöfen, 27 Personen aus dem ZdK und weiteren 20 gewählten Mitgliedern bestehen.
Die Aufarbeitung erfolgt nach wie vor zu uneinheitlich in den 27 Diözesen, von denen einige immer noch keine eigenen Studien in Auftrag gegeben haben (siehe z.B. Übersicht der DBK zur Umsetzung der „Gemeinsamen Erklärung“ zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs). Dies bedeutet immer wieder eine große retraumatisierende Belastung für alle Betroffenen, hat aber auch eine katastrophale Öffentlichkeitswirkung, die alle anderen Leistungen der Kirche in den Hintergrund treten lässt. Deshalb unterstützt Wir sind Kirche auch alle laufenden Bemühungen um Aufhebung der Verjährung oder zumindest eine Verlängerung der Verjährungsfrist auf 70 Jahre nach dem 18. Geburtstag, angemessene Entschädigungen und eine Verantwortungsübernahme durch den Staat. Viele Betroffene können erst nach Jahrzehnten über Erlittenes reden.
Fatale Fehlentscheidungen
Bei aller Anerkennung, was die römisch-katholische Kirche in Deutschland und weltweit in den vergangenen Jahren bezüglich sexualisierter Gewalt Vorbildliches geleistet hat – besonders in der Prävention: Es ist immer noch zu wenig und es erfolgt zu langsam. Aus Sicht der KirchenVolksBewegung, die sich seit 30 Jahren in diesem Bereich engagiert, und noch viel mehr aus Sicht der Betroffenen ist es sehr enttäuschend, dass es so viele Jahre dauerte, bis beim Synodalen Weg die in der MHG-Studie benannten systemischen Risikofaktoren – Macht, Pflichtzölibat, Sexuallehre und der Ausschluss von Frauen aus den Weiheämtern der Kirche – vertieft behandelt werden.
Während seiner langen Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation (1982-2005) hat Kardinal Ratzinger noch im Jahr 2001 alle Missbrauchsfälle weltweit unter das „päpstliche Geheimnis“ gestellt. Eine fatale Entscheidung, die erst durch Papst Franziskus aufgehoben wurde. Wenn es diesen „Geheimerlass“ nicht gegeben hätte, wäre vielen Tausend Betroffenen schwerstes Leid erspart geblieben und es hätte vermutlich die fundamentale Glaubwürdigkeitskrise der römisch-katholischen Kirche verringert werden können, die zu so hohen Austrittszahlen geführt haben.
Aktuelle Petitionen
Wir sind Kirche unterstützt die Petition und Postkartenaktion gegen die Einrede der Verjährung durch die Kirche in Schmerzensgeldprozessen sowie die Petition „Gewalt an Kindern und Jugendlichen entschlossen entgegentreten!“ des Unabhängigen Betroffenenbeirats in der Erzdiözese München und Freising. > mehr
Hintergrund
Seit dem KirchenVolksBegehren im Jahr 1995, das damals 1,8 Millionen Unterschriften allein in Deutschland erhielt, setzt sich Wir sind Kirche als katholische Reformbewegung für die Aufarbeitung und Entschädigungen von Betroffenen sexualisierter Gewalt ein. Von 2002 bis 2012, also lange vor den Bischöfen, hat das „Wir sind Kirche-Not-Telefon“ mehr als 400 von sexueller Gewalt durch Priester und Ordensleute betroffene Menschen beraten und begleitet. Wir sind Kirche International wurde 1996 in Rom gegründet und ist mit anderen Kirchenreformgruppen weltweit vernetzt.
Pressekontakte Wir sind Kirche:
Sigrid Grabmeier (Bundesteam), Tel: 0170-8626290, grabmeier@wir-sind-kirche.de
Paul-G. Ulbrich, Tel: 0157 88 45 56 12, ulbrich@wir-sind-kirche.de
Christian Weisner (Bundesteam), Tel. 0172-5184082, presse@wir-sind-kirche.de
> Wir sind Kirche-Interview ein Jahr nach Aufdeckung Canisius-Kolleg
> Wir sind Kirche fünf Jahre nach Aufdeckung Canisius-Kolleg
> Wir sind Kirche zehn Jahre nach Aufdeckung Canisius-Kolleg
> Wir sind Kirche zum „Gebetstag für Betroffene sexuellen Missbrauchs“ 2024
Mehr Informationen: www.wir-sind-kirche.de/gewalt
28 January 2010: Disclosure of sexual abuse at the Canisius College
‘15 years too long since sexualised violence at the Canisius College was uncovered’
We are Church press release, Munich, 20 January 2025
On the occasion of the 15th anniversary of the disclosure of sexualised violence at the Berlin Canisius College on 28 January 2010, the church people's movement We are Church once again urgently calls on the 27 German bishops and the heads of religious orders to intensify their efforts to deal with sexualised violence and to provide truly appropriate compensation. Only if this heavy burden of the loss of credibility is lifted, the future-oriented reform steps of the Synodal Way in Germany and also those of the World Synod can succeed.
In January 2010, it was the courageous steps taken by the then head of the Berlin Canisius College, the Jesuit Klaus Mertes, as well as by Matthias Katsch and other former students of the ‘Eckiger Tisch’ (Square Table) organisation, which was founded later and comprised of those affected, that provided the decisive impetus for the extent of physical and sexual violence within the church, which had been covered up for decades, to be revealed in Germany as well.
The long road to the ‘synodal way’ in Germany
The scandal of sexualised violence in 1995 surrounding the Viennese Cardinal Hans Hermann Groër, which was the reason for the Church Referendum and the founding of We Are Church in Austria, as well as the scandal in the US-American Archdiocese of Boston in 2002, known as ‘Spotlight’, had not led to a discussion of the underlying causes either there or anywhere else. This only happened in Germany.
The ‘dialogue process’ begun in 2011 under Archbishop Robert Zollitsch, then chairman of the German Bishops' Conference (DBK), as an initial response to the revelations at the Canisius College, was, however, very quickly downgraded to a non-binding “discussion process” and ended without result in 2015. The attempt to conduct the first nationwide study on sexualised violence in the Catholic Church under the direction of Prof. Christian Pfeiffer did not materialise.
It was only the shocking results of the MHG study commissioned by the DBK in autumn 2018 that led the German bishops to ask the Central Committee of German Catholics (ZdK) at the end of 2019 to start the ‘synodal path’ outside of canon law in Germany as a joint effort. But this pioneering approach was viewed with suspicion by the Vatican for far too long and was obstructed.
Disunited bishops' conference
The fact that four of the 27 German bishops (Woelki, Voderholzer, Oster, Hanke) refused to continue the “synodal path” in Germany in the “Synodal Committee” and its financing is a breach of trust for the entire Catholic Church in Germany and also a weakening in relation to the Vatican. Even after the constructive talks of German bishops in Rome in 2024 and the encouraging conclusion of the World Synod, these four bishops have regrettably stuck to their guns.
By breaking ranks, these four bishops have shown what they think of ‘synodality’ in the Church. According to the action text ‘Strengthening Synodality in a Sustainable Way’ adopted by the synod assembly, the synodal committee should consist of the 27 diocesan bishops, 27 persons from the ZdK and a further 20 elected members.
The 27 dioceses are still dealing with the issue in an inconsistent manner, with some of them still having not commissioned any studies of their own (see, for example, the overview of the DBK on the implementation of the ‘Joint Declaration’ on the processing of sexual abuse). This repeatedly means a great deal of re-traumatisation for all those affected, but it also has a disastrous public impact that eclipses all the church's other achievements. Therefore, We Are Church also supports all ongoing efforts to have the statute of limitations repealed, or at least to have the statute of limitations extended to 70 years after the person's 18th birthday, as well as appropriate compensation and the assumption of responsibility by the state. Many victims can only talk about what they have suffered after decades.
Fatal mistakes
Despite all the recognition of the exemplary work that the Roman Catholic Church in Germany and worldwide has done in recent years with regard to sexualised violence – especially in prevention: it is still not enough and it is happening too slowly. From the point of view of the Church People's Movement, which has been active in this area for 30 years, and even more so from the point of view of those affected, it is very disappointing that it took so many years for the systemic risk factors identified in the MHG study – power, mandatory celibacy, sexual education and the exclusion of women from the consecrated ministries of the Church – to be dealt with in depth in the Synodal Way.
During his long time as Prefect of the Congregation for the Doctrine of the Faith (1982-2005), Cardinal Ratzinger still placed all cases of abuse worldwide under the ‘papal secret’ in 2001. This was a fatal decision that was only repealed by Pope Francis. If this ‘secret decree’ had not existed, many thousands of victims would have been spared the most severe suffering and it would probably have been possible to reduce the fundamental credibility crisis of the Roman Catholic Church, which has led to such high numbers of people leaving the church.
Current petitions
We are Church supports the petition and postcard campaign against the objection of the statute of limitations by the church in compensation lawsuits, as well as the petition ‘Decisively confronting violence against children and young people!’ of the Independent Advisory Council for Victims in the Archdiocese of Munich and Freising. > more
Background
Since the Church Referendum in 1995, which at the time received 1.8 million signatures in Germany alone, We Are Church has been campaigning as a Catholic reform movement for the processing and compensation of victims of sexualised violence. From 2002 to 2012, long before the bishops did, the ‘Wir sind Kirche’ emergency telephone hotline provided advice and support to more than 400 people affected by sexual violence by priests and religious. Wir sind Kirche International was founded in Rome in 1996 and is networked with other church reform groups worldwide.
Press contacts We are Church:
Sigrid Grabmeier (federal team), Tel: 0170-8626290, grabmeier@wir-sind-kirche.de
Paul-G. Ulbrich, Tel: 0157 88 45 56 12, ulbrich@wir-sind-kirche.de
Christian Weisner (federal team), Tel. 0172-5184082, presse@wir-sind-kirche.de
> We are Church-Interview one year after the Canisius College scandal
> We are Church five years after the Canisius College scandal
> We are Church ten years after the Canisius College scandal
> We Are Church on the ‘Day of Prayer for Survivors of Sexual Abuse’ 2024
More information: www.wir-sind-kirche.de/gewalt
Zuletzt geändert am 20.01.2025