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Veröffentlicht am 24­.05.2014

Walter Kardinal Kasper

Die Familie als Hauskirche

Aus: Das Evangelium von der Familie, Seite 45-53

4. Die Familie als Hauskirche

Die Kirche ist nach dem Neuen Testament das Haus Gottes (1 Petr 2,5; 4,17; 1 Tim 3,15; Hebr 10,21). Die Liturgie bezeichnet die Kirche oft als familia Dei (Familie Gottes). Sie soll Haus für alle sein, in ihr sollen sich alle zuhause und wie in der Familie fühlen dürfen. Zum Haus gehörten in der antiken Welt neben dem Hausvater und seiner Ehefrau mitsamt den Kindern meist auch im Haus lebende Verwandte, die Sklaven, oft auch Freunde oder Gäste. In diesem Kontext müssen wir es verstehen, wenn wir von der Urgemeinde hören, dass die ersten Christen in Häusern zusammenkamen (Apg 2,26; 5,42). Immer wieder ist von der Bekehrung ganzer Häuser die Rede (Apg 11,14; 16,15.31.33).

Bei Paulus war die Kirche nach Häusern, d. h. nach Hauskirchen, geordnet (Röm 16,5; 1 Kor 16,19; Kol 4,15; Phlm 2). Sie waren für Paulus Stützpunkt und Ausgangspunkt bei seinen Missionsreisen, sie waren Gründungszentrum undBaustein der Ortsgemeinde, Orte des Gebets, der katechetischen Unterweisung, der christlichen Brüderlichkeit und der Gastfreundschaft für durchreisende Christen. Vor der Konstantinischen Wende waren sie wohl auch Versammlungsort für die Feier des Herrenmahls.

Auch in der weiteren Geschichte der Kirche haben Hauskirchen eine bedeutende Rolle gespielt: Zu erwähnen sind vor allem pietistische Gemeinschaften und Freikirchen, von denen wir in dieser Hinsicht viel lernen können. In den katholischen Familien gab und gibt es Hausaltärchen (»Herrgottswinkel«), wo sich die Familie abends und zu besonderen Zeiten (Adventszeit, Heiliger Abend, Not- und Unglückssituationen u. a.) zu gemeinsamem Gebet versammelt. Solche Bräuche der Volksfrömmigkeit verdienen eine Erneuerung. Man denke etwa an den Segen der Eltern für ihre Kinder, an religiöse Zeichen, vor allem ein Kreuz, in der Wohnung, an Weihwasser als Erinnerung an das Taufwasser u. a.

Das Zweite Vatikanische Konzil hat im Anschluss an Johannes Chrysostomos die Idee der Hauskirche aufgegriffen (LG 11; AA 11). Aus der knappen Erwähnung in den Dokumenten des Konzils sind in den nachkonziliaren Dokumenten ausführliche Kapitel geworden. Vor allem das Apostolische Schreiben Papst Pauls VI. Evangelii nuntiandi (1975) hat den Impuls des Konzils nach dem Konzil weitergeführt. Es hat die kirchlichen Basisgemeinschaften als Hoffnung für die universale Kirche bezeichnet (EN 58; 71). In Lateinamerika, Afrika und Asien (auf den Philippinen, in Indien, Korea und andernorts) sind Hauskirchen in Form von Basisgemeinden (Basic Christian Communities) oder als Kleine christliche Gemeinschaften (Small Christian Communities) zu einem pastoralen Erfolgsrezept geworden. Besonders in Minoritäts-, Diaspora- und Verfolgungssituationen sind sie für die Kirche zur Überlebensfrage geworden.

In der Zwischenzeit beginnen die Impulse aus Lateinamerika, Afrika und Asien auch in der westlichen Zivilisation gute Früchte zu tragen. Dort erweisen sich alte volkskirchliche Strukturen immer weniger als tragfähig, die pastoralen Räume werden größer und die Christen geraten oft in die Situation kognitiver Minderheiten. Dazu kommt, dass die Kleinfamilie, die sich seit dem 18. Jahrhundert aus der früheren Großfamilie emanzipiert hat, inzwischen in eine strukturelle Krise geraten ist. Die modernen Arbeits- und Wohnbedingungen haben zu einer Trennung von Wohnhaus, Arbeitsplatz und den Orten der Freizeitaktivitäten und so zu einem Zerfall des Hauses als sozialer Einheit geführt. Die Väter müssen aus Berufsgründen oft längere Zeit von der Familie fern bleiben; auch die Frauen sind durch ihre Berufsarbeit oft nur noch teilweise in der Familie präsent. Durch die familienfeindlichen Bedingungen des modernen Lebens ist die moderne Kleinfamilie in Schwierigkeiten geraten. Auch Menschen, die nicht auf der Straße leben, sind im anonymen großstädtischen Milieu, besonders in den oft trostlosen Peripherien in den modernen Megapolen, in einem tieferen Sinn heimat- und obdachlos geworden. Wir müssen ihnen im wörtlichen und übertragenen Sinn neue Häuser bauen.

Hauskirchen können eine Antwort sein. Selbstverständlich können wir die Hauskirchen der frühen Kirche heutzutage nicht einfach kopieren. Wir brauchen Großfamilien neuer Art. Damit Kleinfamilien überleben können, müssen sie eingebettet sein in einen die Generationen übergreifenden Familienzusammenhalt, wo besonders Großmütter und Großväter eine wichtige Rolle spielen, in zwischenfamiliäre Nachbarschafts- und Freundeskreise, in denen die Kinder während der Abwesenheit der Eltern Unterschlupf finden und in denen alleinstehende ältere Menschen, Geschiedene und Alleinerziehende ein gewisses Zuhause finden. Apostolische und Geistliche Gemeinschaften sind oft der geistliche Raum und die geistliche Atmosphäre für Familiengemeinschaften. Ansätze zu Hauskirchen finden sich u. a. in Gebetsgruppen, Bibelgruppen, katechetischen Gruppen und ökumenischen Gruppen.

Hauskirchen sind eine ecclesiola in ecclesia, eine Kirche im Kleinen innerhalb der Kirche im Großen. Sie machen die Kirche vor Ort mitten im Leben präsent. Denn wo zwei oder drei im Namen Christi versammelt sind, da ist er mitten unter ihnen (Mt 18,20). Aufgrund von Taufe und Firmung sind die Hausgemeinden messianisches Volk Gottes (LG 9). Sie nehmen teil am priesterlichen, prophetischen und königlichen Priestertum (1 Petr 2,8; Offb 1,6; 5,10; LG 10 –12; 30 –38). Durch den Heiligen Geist ist ihnen der sensus fidei, der Glaubenssinn, eigen, ein intuitives Gespür für den Glauben und für eine evangeliumsgemäße Lebenspraxis. Sie sind nicht nur Objekt, sondern Subjekt der Familienpastoral. Vor allem durch ihr Beispiel können sie der Kirche helfen, tiefer in das Wort Gottes einzudringen und es im Leben voller anzuwenden (LG 12; 35; EG 154 f ). Da der Heilige Geist der Kirche insgesamt gegeben ist, sollen sich die Hausgemeinden nicht sektiererisch von der größeren communio der Kirche isolieren (EN 58; 64; EG 29).

Dieses »katholische Prinzip« bewahrt die Kirche vor dem Zerfall in einzelne autonome Freikirchen. Durch solche Einheit in der Vielfalt ist die Kirche gleichsam sakramentales Zeichen der Einheit in der Welt (LG 1; 9).

Die Hauskirchen pflegen das Bibelteilen. Aus dem Wort Gottes schöpfen sie Licht und Kraft für ihr Alltagsleben (DV 25; EG 152 f ). Angesichts des Bruchs in der Weitergabe des Glaubens an die nächste Generation (EG 70) haben sie die wichtige katechetische Aufgabe, zur Freude des Glaubens hinzuführen. Gemeinsam beten sie in ihren eigenen Anliegen und für die Anliegen der Welt. Die sonntägliche Eucharistie sollen sie zusammen mit der ganzen Gemeinde als Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens feiern (LG 11).16 Im Familienkreis begehen sie den Tag des Herrn als Tag der Muße, der Freude und der Gemeinschaft, außerdem die Zeiten des Kirchenjahres mit seinem reichen Brauchtum (SC 102–111). Sie sind Orte einer Spiritualität der Gemeinschaft, in der man einander im Geist der Liebe, der Vergebung und der Versöhnung annimmt, in der man Freud und Leid, Sorgen, Nöte und Trauer sowie menschliches Glück im Alltag, am Sonntag und an Feiertagen teilt. Durch all das bauen sie den Leib der Kirche auf (LG 41).

Die Kirche ist ihrem Wesen nach missionarisch (AG 2); evangelisieren ist ihre tiefste Identität (EN 14; 59). Die Familien sind als Hauskirchen in besonderer Weise berufen, den Glauben in ihrem jeweiligen Milieu weiterzugeben. Ihnen kommt eine eigene prophetische und missionarische Sendung zu. Ihr Zeugnis ist vor allem Zeugnis des Lebens, durch das sie gleichsam als Sauerteig in der Welt wirken können (Mt 13,33; vgl. AA 2– 8; EN 21; 41; 71; 76; EG 119 –121). So wie Christus gekommen ist, das Evangelium den Armen zu verkünden (Lk 4,18; Mt 11,5), und die Armen und Trauernden, die Kleinen und Unmündigen seliggepriesen hat (Mt 5,3 f; 11,25; Lk 6,20 f ), so hat er auch seine Jünger ausgesandt, den Armen das Evangelium zu verkünden (Lk 7,22). Darum dürfen die Hauskirchen nicht exklusive elitäre Gemeinschaften sein. Sie müssen sich für die Notleidenden aller Art, für die einfachen und kleinen Leute öffnen. Sie sollen wissen, dass das Reich Gottes den Kindern gehört (Mk 10,14) (EG 197–201).

Die Familien brauchen die Kirche, und die Kirche braucht die Familien, um mitten im Leben und in den modernen Lebensmilieus präsent zu sein. Ohne die Hauskirchen ist die Kirche der konkreten Lebenswirklichkeit entfremdet.

Nur durch die Familien kann die Kirche dort zuhause sein, wo die Menschen zuhause sind. Das Verständnis der Kirche als Hauskirche ist darum grundlegend für die Zukunft der Kirche und für die neue Evangelisierung. Die Familien sind die ersten und die besten Boten des Evangeliums von der Familie. Sie sind der Weg der Kirche.


Text mit Fußnoten:
http://www.herder.de/buecher/details?k_tnr=31245

Zuletzt geändert am 24­.05.2014