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Veröffentlicht am 27­.01.2015

5 Jahre "annus horribilis"

Wir sind Kirche: „Die katholischen Ursachen sexualisierter Gewalt in den Blick nehmen!“

Pressemitteilung München/Rom, 26. Januar 2015

Kritische Bilanz fünf Jahre nach dem Schritt von P. Klaus Mertes an die Öffentlichkeit

„Die Bischöfe müssen endlich die Ursachen sexualisierter Gewalt in den Blick nehmen, die durch die Struktur der römisch-katholischen Kirche bedingt sind.“ Dies fordert die KirchenVolksBewegung Wir sind Kirche auch fünf Jahre nach dem mutigen Schritt des Jesuiten Pater Klaus Mertes, der damals Leiter des Berliner Canisius-Kollegs war, an die Öffentlichkeit. Am 28. Januar 2010 hatten die Jesuiten den entscheidenden Anstoß gegeben, dass das Ausmaß der jahrzehntelang vertuschten körperlichen und sexualisierten Gewalt innerhalb der römisch-katholischen Kirche auch in Deutschland offenbar wurde.

Trotz aller anzuerkennenden Bemühungen, vor allem von Bischof Dr. Stefan Ackermann, der seit Februar 2010 „Missbrauchsbeauftragter“ der Deutschen Bischofskonferenz ist: Von einem „Neuanfang“ und einer „lückenlosen und absolut transparenten Aufklärung“, die die deutschen Bischöfe versprochen hatten, ist immer noch zu wenig zu spüren. Die KirchenVolksBewegung sieht nach wie vor deutlichen Handlungsbedarf bei der Aufarbeitung, wie es z.B. vor kurzem in der Berichterstattung der ARD über die Regensburger Domspatzen und den Umgang der Bistumsleitung mit der Problematik deutlich wurde. Noch immer besteht ein erhebliches Defizit bezüglich der Bereitschaft, sensibel und verantwortlich mit den in der Vergangenheit geschlagenen Wunden umzugehen.

„Nicht die Einzeltäter, sondern die Kirchenstrukturen müssen auf den Prüfstand!“

Wir sind Kirche hat erhebliche Zweifel, ob die auf die Einzeltäter konzentrierten wissenschaftlichen Fallstudien wirklich zu den entscheidenden strukturellen Ursachen vorstoßen werden. Nach dem neuen Anlauf der katholischen Bischofskonferenz bei der wissenschaftlichen Erforschung sexuellen Missbrauchs in der Kirche im März 2014 durch einen interdisziplinären Forschungsverbund aus sieben Professoren um den Mannheimer Psychiater Prof. Dr. Harald Dreßing scheint der Ernst der Lage immer noch nicht überall durchgedrungen zu sein, wie die sehr unsensiblen Kontaktaufnahmen und Befragungen zeigen.

Die Ende 2012 vorgestellte Meta-Studie von Prof. Dr. Norbert Leygraf konzentrierte sich lediglich auf die Täter und ignorierte völlig die psychischen Auswirkungen auf die viel zahlreicheren Opfer. Vor allem entbehrte sie einer Analyse des Versagens der Bistumsleitungen. Bereits Ende 2010 hatte das von der Erzdiözese München-Freising in Auftrag gegebene Gutachten der Rechtsanwältin Dr. Westpfahl in schockierender Weise aufgedeckt, wie – wohl nicht nur in diesem Bistum – von 1945 bis 2009 in diesen Fällen gehandelt bzw. nicht gehandelt wurde: Vertuschung mittels Verharmlosung, Nichtbeachtung der Opfer, gezielte Aktenvernichtung bis hin zur Erpressung homosexueller höherer Geistlicher (www.erzbistum-muenchen.de/media/media14418720.PDF).

Nach wie vor ist es unerlässlich, endlich die tieferen Ursachen der sexualisierten Gewalt und die Prozesse der Vertuschung aufzudecken, die wesentlich auch durch das klerikale Autoritätssystem der römisch-katholischen Kirche bedingt sind. Die begünstigenden Kirchenstrukturen der römisch-katho-lischen Kirche (klerikaler Machtmissbrauch, Leugnung der Sexualität, falsche Priesterausbildung und -auswahl sowie das Fehlverhalten der Ordinariate) müssen kritisch überprüft und die Fragen nach Macht und Amt gestellt werden – so wie dies der australische Bischof Geoffrey Robinson getan hat (siehe unten).

Verantwortlichkeit des Vatikans

Die Frage der Verantwortlichkeit des Vatikans ist eng mit der absolutistischen und zentralistischen Struktur der römischen-katholischen Kirche verbunden, die seit dem Ersten Vatikanischen Konzil (1869/70) das Jurisdiktionsprimat für den Papst in Anspruch nimmt. Deshalb stehen nicht nur das aktuelle Handeln der deutschen Bistümer weiterhin auf dem Prüfstand, sondern auch die Konsequenzen, die im Vatikan zu den weltweit verbreiteten Fällen sexualisierter Gewalt in der Kirche gezogen wurden. Nach der verheerenden Anordnung von Kardinal Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI., der als Präfekt der Glaubenskongregation noch im Jahr 2001 die Behandlung solcher Fälle als Geheimsache verfügte, war Benedikt dann allerdings der erste Papst, der die sexualisierte Gewalt offen angesprochen und entsprechende Gegenmaßnahmen in Rom wie auch in den Ortskirchen begonnen und angeordnet hat.

Sein Nachfolger Papst Franziskus hat die in den vergangenen Jahren bekannt gewordenen Missbrauchsfälle als „Schande der Kirche“ bezeichnet und forderte 2013 den derzeitigen Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Gerhard Ludwig Müller konsequent gegen Täter vorzugehen, was Müller als Bischof von Regensburg nicht getan hatte. Franziskus setzte im Frühjahr 2014 eine achtköpfige Kinderschutzkommission zum Kampf gegen sexualisierte Gewalt im kirchlichen Raum ein und traf sich im Juli 2014 mit Überlebenden sexueller Gewalt.

Die von Papst Franziskus einberufenen Familien-Synoden 2014 und 2015 in Rom müssen als Chance genutzt werden, die Kluft zwischen katholischer Moral-Lehre und Lebenswirklichkeit der Gläubigen, und damit auch die Kluft zwischen Anspruch und Realität des Lebenswandels der Kleriker offen zu thematisieren. Die Zölibatsverpflichtung – die allein schon aus pastoralen Gründen dringend diskutiert werden muss – kann nicht monokausal und zwangsläufig für die Missbräuche verantwortlich gemacht werden. Der erzwungene Zölibat und die Beschränkung des Priesteramtes auf Männer sind jedoch Ausdruck der Sexual- und Frauenfeindlichkeit einer männerbündischen Kirche, die sexualisierte Gewalt fördert und ihre Vertuschung ermöglicht.
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Seit dem Sommer 2002 hat die KirchenVolksBewegung fast zehn Jahre lang ein unabhängiges niederschwelliges Not-Telefon betrieben, das mehr als 400 Menschen beraten und begleitet hat, die damals oder früher von sexueller Gewalt durch Priester und Ordensleute betroffen waren. Die im März 2010 eröffnete telefonische Hotline der Bischofskonferenz für Betroffene ist bedauerlicherweise schon im Dezember 2012 wieder eingestellt worden.

Im Jahr 1995 waren es die Vorwürfe gegen den damaligen Wiener Kardinal Hans Hermann Groer, die zu den Kirchenvolks-Begehren in Österreich und dann auch in Deutschland geführt haben, aus denen die österreichische Plattform Wir sind Kirche, die deutsche KirchenVolksBewegung Wir sind Kirche und die Internationale Bewegung Wir sind Kirche hervorgegangen sind.

Pressekontakte Wir sind Kirche-Bundesteam:
Sigrid Grabmeier Tel: 0170-8626290, grabmeier@wir-sind-kirche.de Magnus Lux Tel. 0176-41266392, Famlux@t-online.de
Christian Weisner Tel. 0172-5184082, presse@wir-sind-kirche.de






Beratung und Hilfe für Opfer sexualisierter Gewalt in der Kirche
> mehr zum Thema bei Wir sind Kirche

Geoffrey Robinson: „Macht, Sexualität und die katholische Kirche. Eine notwendige Konfrontation“
von Wir sind Kirche mitherausgegebene deutsche Übersetzung des Buches des australischen Bischofs (ISBN: 978-3-88095-196-9)
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Zuletzt geändert am 28­.01.2015