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Veröffentlicht am 31­.01.2022

29./30.1.2022 - Süddeutsche Zeitung

Milde zum Schutz des Zölibats

Zu „Zwölf Jahre des Schweigens“ vom
24. Januar, zu „Ich doch nicht“ vom 22. Januar,
zu „Und die Opfer?“, „Schuld sind die
anderen“ und „Ich hatte keine Kenntnis“
vom21. Januar und weiteren Artikeln:

Es gibt einen Zusammenhang zwischen
Nachsichtmit MissbrauchstäternundHärte
gegen heiratswillige Priester: den Priestermangel.
In den Fünfzigerjahren waren
die Priesterseminare voll, Weihejahrgänge
mit 50 und mehr Kandidaten keine Seltenheit.
LautWSW-Gutachtenwurden damals
sexuelle Verfehlungen erheblich
strenger geahndet: Klosteraufenthalt ohne
Freigang, Verbot, der Eucharistiefeier
vorzustehen und Suspendierung. Seit in
den Sechzigerjahren derNachwuchs drastisch
zurückging und vielen guten PriesternwegenHeirat
gekündigtwurde–weltweit
mehr als 100000 –, konnten beschuldigte
Kleriker „mit unverdienter Milde
undFürsorge seitensder kirchlichenHierarchie
rechnen“, denn man konnte sie ja
„verstecken“ und sie wurden dringend gebraucht.
40Kleriker setzten dieErzbischöfe
vonMünchen-Freising weiterhin in der
Seelsorge ein;18nacheinschlägiger staatlicher
Verurteilung. Das ging bis 2010. Die
Personalpolitik war von Toleranz für nur
scheinbar zölibatär lebende Pädokriminelle
und andere Sexualstraftäter bestimmt.
Da drückteman alle Augen zu. Daswar bei
Erzbischof Joseph Ratzinger nicht anders.
Sie allewären gut beraten, öffentlich sichtbar,
klassisch katholisch Reue und Buße
zu erwecken, wie es Rechtsanwältin MarionWestpfahl
bei der Präsentationdes Gutachtens
empfohlen hat. Joseph Ratzinger
wird bald vor seinem Richter Christus stehen,
der nur einen Maßstab kennt: „Was
ihr einem dieser Geringsten (nicht) getan
habt, das habt ihrmir (nicht) getan.“
Nach einer leichten Erholung in den
70ern gingdie Zahl der Priesterweihen seit
den 80ern kontinuierlich zurück. Von diesemZeitpunktan
verschärfte sich derUmgang
mit heiratswilligen Priestern noch
einmal. Johannes Paul II. beendete eine
zwischenzeitliche liberale Dispenspraxis,
welche Priestern wenigstens kirchliche
Heirat und Berufsausübung in der Kirche
gestattet hatte. In der Erzdiözese München-
Freising verloren gut 150 Priester,
die offen zu ihrer Beziehung standen, Beruf
und Lebensunterhalt. Kardinal Friedrich
Wetter forderte sogar die kirchliche
Erlaubnis, Religionsunterricht zu erteilen,
zurück. Heiratswillige wurden maximal
abgeschreckt und bestraft – zum Schutz
des Zölibats. Missbrauchstäter erfuhren
MitleidundFürsorge–zumSchutz des Zölibats.
Welch eine Konfusion derWerte!
Generalvikar Peter Beer begriff den Zusammenhang
als erster hochrangiger Kleriker
der Erzdiözese. Er drang auf umfassende
Aufklärung, Aufarbeitung und konsequentes
Vorgehen gegen Verdächtige.
Die Initiative „Priester im Dialog“ und das
Priesterforum empfehlen die Abschaffung
des Pflichtzölibats, der laut MHGStudie
als ein Risikofaktor für sexualisierte
Gewalt identifiziert wurde. Ein freigestellter
Zölibat hätte mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu
dieser „Bilanz des Schreckens“ geführt.
Dasbelegt schondie vergleichsweise geringe
Zahl von Kinderschändern unter (verheirateten)
Diakonen. Ohne Pflichtzölibat
würde der Generalverdacht für zölibatäre
Priester beendet.Wenn nicht jetzt – wann
dann?

Dr. Edgar Büttner, Bad Aibling

Zuletzt geändert am 31­.01.2022