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Veröffentlicht am 16­.10.2011

16.10.2011 - Christ in der Gegenwart

Kirche in der Welt (von Helmut Reichelstein)

Mitte Januar wurde das "Unwort des Jahres" gekürt. Es war: "alternativlos" - in doppelter Hinsicht. Früher war es einmal "Rentnerschwemme", "Gotteskrieger", "Ethnische Säuberung" ... Ich möchte noch das Wort "Heiliger Krieg" den Unworten hinzufügen. Jedes Jahr wird aber nicht nur ein solches "Unwort", sondern auch ein "Wort des Jahres" ausgewählt, ein Wort, das eine wichtige Geisteshaltung oder eine wichtige Entwicklung aufzeigt. In seiner Predigt zum Jahreswechsel 2010/2011 sprach Bischof Ackermann von Trier mehrfach vom "Umbruch". Es gibt wohl kaum ein Wort, das unsere Zeit so sehr kennzeichnet wie dieses. Umbruch ist ein Phänomen, das die Kirche ebenso betrifft wie die Gesellschaft. Umbruch ist das Wort unserer Zeit.

Es wird viel gesprochen von der Schnelllebigkeit. Was heute modern ist, gilt morgen als veraltet. Gestern Pferdekutsche, heute Autos, die zweihundert Kilometer in der Stunde fahren, gestern noch erdverhaftet, heute Menschen auf dem Mond, gestern Kopfrechnen, heute alles digitaL Heute in, morgen out. TV und PC und Navi sind faszinierende Wunderwerke der Technik, sie haben neue Welten eröffnet. Freilich gibt es auch Fragezeichen.

Wir sind kein Museum

Die Welt ist im Umbruch. In diesem Wort stecken zwei Wörter: "um", also wenden, umwenden, und "Bruch", da bricht etwas auseinander. Umbruch ist ein Charakteristikum, das auch die Kirche betrifft. Die Kirche ist zwar zu Recht ein Hort der Beständigkeit, sie hat notwendig einen Hauch von Ewigkeit. Aber sie ist auch von Zeitströmungen betroffen, da sie Teil der Gesellschaft ist und weil die Gesellschaft ein Grundbestandteil der Kirche ist. Die Kirche ist in erster Linie der ewigen Wahrheit Gottes verpflichtet, das ist ihr unabänderliches Fundament. Aber in ihrer äußeren Gestalt ist sie auch Kind ihrer Zeit, ist mit Geistesströmungen und Ausdrucksformen der Zeit behaftet.

Kirche und Welt, Kirche und Gesellschaft gehören notwendig zusammen, so wie auch Gott und die Welt zusammengehören. Kirche ist zuerst Kirche des 1. Jahrhunderts auf dem Fundament Jesu Christi. Aber sie ist gleichzeitig Kirche von heute, und nicht von vorgestern. Wir sollen in die Welt des 21. Jahrhunderts hinein das Wort Gottes verkünden und nicht in die Welt des 19. "Das Heute ist unsere Zeit, nicht das Gestern", hat der Theologe Romano Guardini einmal gesagt. Somit steht die Kirche notwendig in einer ähnlichen Umbruchsituation wie die Gesellschaft. In den offiziellen Messtexten beten wir darum, dass wir "die Zeichen der Zeit verstehen". Dieses Wort stammt sogar aus dem Mund Jesu. Also müssen Gestalt und Sprache der Kirche auch die Zeichen der Zeit, den berühmten Zeitgeist, bedenken. Freilich bleibt Christus unser unabänderliches Fundament, aber eine Kirche, die nur rückwärts schaut, ist nicht mehr die Kirche Jesu Christi. Wir sind weder Museum noch Geschichte, sondern lebendiger Geist Gottes. Latein ist beispielsweise bereits die vierte Sprache der Bibel. Wir lesen heute nicht Althochdeutsch, sondern Neuhochdeutsch. Wir beten nicht mehr "gebenedeit unter den Weibern", sondern "unter den Frauen". Christus hat uns in alle Länder und in alle Zeiten gesandt.

Die traditionalistischen Piusbrüder erfüllen nicht den Auftrag Christi, weil sie Feind jeder Reform sind. Sie lehnen das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) ab, obwohl dies gültiges Konzil der katholischen Kirche ist. Das Konzil von Trient (1545-1563) wollen sie dagegen für immer festschreiben. Trient war gut und dringend notwendig für seine Zeit, die nachreformatorische Zeit. Aber es war schon die Frucht vieler Entwicklungen und Umbrüche in der Kirche. Konzilien waren immer eine Reaktion auf die Entwicklung der Zeit und auf die Entwicklung in der Kirche. Bei der Piusbruderschaft frage ich mich: Wollen sie "zurück in die Zukunft", oder wollen sie "vorwärts in die Vergangenheit"?

Mit der derzeitigen Strukturreform bemühen sich die Bischöfe, eine Antwort auf die Fakten unserer Gegenwart zu geben. Wir können heute nicht mehr im Barock schwelgen, selbst in der Musik und in der Architektur nicht. Kirche muss zeitgemäß sein, mit der alten Botschaft. Die Cappa magna, die lange Schleppe der Bischöfe, ist heute undenkbar, auch wenn einige Kardinäle sie offenbar wieder benutzen. Kirche muss sich ändern, und sie tut es in ihrer Sprache, in ihrer äußeren Gestalt, auch in ihrer Denkweise. Es ist nur eine Frage des Maßes und der Details. Die äußere Gestalt ähnelt heute aber zuweilen mehr der Zeit des Barocks als der unseren.

In der Strukturreform wird oft notwendige und gute Arbeit geleistet, sie ist unabdingbar. Aber ist es eine wirkliche Strukturreform? Bisher geht es um die äußere Struktur: die Zuordnung der immer weniger werdenden Seelsorger, eine mathematische Aufgabe, und die Organisation der Pfarreien, eine ständige Aufgabe. Was wir brauchen, ist aber eine wirkliche Strukturreform, welche die Tiefen der Kirche betrifft. Notwendige Folgen des Umbruchs in der Kirche sind: Hochschätzung der Laien, Einsatz für die Rechte der Frau in der Kirche, Überdenken des Zölibats, das Recht der freien Meinungsäußerung in der Kirche, Bewertung der Sexualität und anderes mehr.

Gestalt und Verwaltung der Kirche dürfen nicht mehr absolutistisch, feudalistisch sein. Als Offenbarungsreligion können wir nie völlig demokratisch sein, aber wir brauchen dringend demokratische Elemente. Solche Elemente würden der Kirche insgesamt und damit dem Glauben heute sehr gut tun. Bischof Ackermann sagte: "Die Umbruchsituation lässt uns nüchterner und ehrlicher auf unsere Kirche schauen." Eine Kirche, die nur hechelnd dem Zeitgeist nachläuft, macht sich lächerlich. Eine Kirche, die den Geist der Zeit außer Acht lässt, macht sich schuldig am Auftrag Jesu Christi. Wir müssen Antwort geben auf die Fragen von heute, nicht auf die von gestern.


Heute ist die Kirche in vielen Ländern einziger Hoffnungsträger für Gerechtigkeit und Freiheit und Frieden. Sie ist sehr engagiert in der Entwicklungshilfe. Lange ehe der Staat auf die Idee kam, gab es schon "Misereor" und "Adveniat". Kirche hat sich schon immer für diese Werte eingesetzt, wie etwa die Beispiele der heiligen Elisabeth oder des heiligen Vinzenz von Paul zeigen. Aber heute tut sie dies in viel stärkerem Maße und in zeitgemäßer Form und reagiert somit auf die Zeichen der Zeit. Umbruch ist ein gewaltiges Zeichen der Zeit, auf das wir reagieren müssen. Dabei vergisst die Kirche nicht ihren Ur-Auftrag, die Menschen zu Gott zu führen.

Christliche "Magna Charta"

Jesus hat immer beides zusammengesehen. Er gab uns mit dem Doppelgebot der Liebe: "Du sollst Gott lieben, und du sollst deinen Mitmenschen lieben", unsere "Magna Charta", unsere Verfassung. Das eine geht nicht ohne das andere. Den Armen beistehen, Ausgegrenzte integrieren, sich für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen - das sind eminent religiöse Aufgaben. Johannes fordert: "Nicht mit Worten lieben, sondern in Tat und Wahrheit" (1 Joh 3,18). Und Jesus sagt: "Selig die Barmherzigen" (Mt 5). Das galt immer, aber wir sehen und wir tun es heute neu. Nächstenliebe ist Folge der Gottesliebe.

Das letzte Konzil war ein großer Aufbruch in eine erneuerte Kirche im Geiste Jesu Christi. Als ecclesia semper reformanda bedarf die Kirche ständiger Reform, weil sie von Menschen getragen wird. "Re-Form" heißt: zurück zur ursprünglichen Form. Für uns heißt das: zurück zum Geist des Evangeliums. Die Kirche ist göttlich, aber sie wird von Menschen gestaltet. Das kann zu schrecklichen Fehlentwicklungen führen wie zum Beispiel im 15. und 16. Jahrhundert. Wir müssen immer wieder zur Ur-Form zurückfinden. Das Konzil war ein Werk des Heiligen Geistes. Erschreckend ist eine neue rückwärts gewandte Linie in der Kirche, die wieder Wert auf Titel und äußeres Ansehen legt und wieder zurück vor das Konzil zu gehen scheint.

Uns bewegt die Sorge um die Zukunft der Kirche. Wie sieht Kirche in zwanzig Jahren aus? Die Zahlen der Statistik, der geringe Nachwuchs an Seelsorgern, die Unbeweglichkeit der "Amtskirche" bei brennenden Problemen, das Verharren in alten Rezepten sind mehr als besorgniserregend. Die Seelsorge in den Gebieten mit geringer Besiedlungsdichte ist in Gefahr. Man muss fürchten, dass in den Dörfern die Kirche ohne Seelsorge vor Ort stirbt. Die jetzige, äußerliche Strukturreform wird es nicht schaffen, das zu verhindern. Sonntägliche Wort-Gottes-Feiern mit Laien könnten da eine Hilfe sein, aber es scheint, dass diese totgeschwiegen werden.

Wir müssen vorausdenken. Mir ist "mangelndes Gottvertrauen" vorgeworfen worden. Ist das theologisch richtig? Mit dem Gleichnis von den Talenten fordert Jesus auch von der Kirche, ihre Talente zu nutzen. Wie viel liegt da brach. Große Länder, die einst christlich waren, sind es heute nicht mehr. Vertröstungen helfen nicht. Zutreffend ist eher der Satz: "Wer heute den Kopf in den Sand steckt, wird morgen mit den Zähnen knirschen." Bei der Brotvermehrung sagte Jesus : "Gebt ihr ihnen zu essen." Gott ist der Geber alles Guten, aber wir dürfen uns nicht hinter ihm verstecken. Wenn die Welt im Umbruch ist, dann darf die Kirche sich nicht in eine Wagenburg zurückziehen. Flucht ins Getto wäre das Schlimmste, was wir dem Anliegen Gottes antun könnten. Gott spricht in jede Zeit, und der Heilige Geist weht, wo und wann er will. Vor Jahren sagte Bischof Reinhard Marx einmal in einer Predigt: "Wir sprechen viel vom Umbruch in der Kirche, aber was wir brauchen, ist ein Aufbruch, ein Aufbruch in die neue Zeit." Das Wort hat mich damals begeistert. Nicht klagen und verzagen, sondern aufbrechen. Wir brauchen einen Aufbruch, der die Fakten des Umbruchs der Welt bedenkt.

Zuletzt geändert am 28­.11.2011