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Veröffentlicht am 24­.10.2024

Dr. Willi Knecht

Zum Tode von Gustavo Gutiérrez - eine persönliche Danksagung

Zum Tode von Gustavo Gutiérrez (22. Oktober 2024) - eine persönliche Danksagung

und unter Berücksichtigung einiger Aspekte, die in „offiziellen“ Würdigungen oft zu kurz kommen.

"Theologie ist für mich wie das Schreiben eines Liebesbriefes an Gott, an die Kirche und an die Menschen selbst"(Gustavo G.)

 

1. Der Mensch Gustavo Gutiérrez und sein Glaube


Gustavo Gutiérrez, geboren am 8. Juli 1928 im Zentrum von Lima, stammt aus einer Familie indigener Herkunft. Seit seiner Kindheit litt er unter einer schweren Knochenmarkentzündung (Osteomyelitis), die ihn über sechs Jahre lang an einen Rollstuhl fesselte. Auch nachdem das Schlimmste überstanden war, litt er Zeit seines Lebens unter dieser Krankheit und deren Folgen. Trotz seiner Krankheit und der prekären Situation seiner Eltern (untere Mittelschicht) durfte er das Gymnasium besuchen. Wie er selbst sagte, hatte ihn seine Krankheit - oft große Schmerzen und wochenlang ans Bett gefesselt - schneller reifen lassen.

Bereits als Schüler widmete er sich der Poesie und der Mystik. Besondere Aufmerksamkeit weckten in ihm die Schriften von Blaise Pascal und von dem Schriftsteller und Ethnologen José María Arguedas (Peru).

 

1947 begann er an der staatlichen Universität San Marcos mit einem Medizinstudium mit dem Ziel Psychiater zu werden. Während seiner Studienzeit lernte er über seine Mitarbeit in der „Acción Católica“ die kath. Soziallehre kennen. Dies beeindruckte ihn derart, dass er nun die Berufung spürte, Priester zu werden, um den Menschen so besser dienen zu können. Er gab seine medizinischen Studien auf und trat mit 24 Jahren, als „Spätberufener“, ins Priesterseminar in Lima ein. Mit einer Ausnahmegenehmigung studierte er parallel dazu „Letras“ (Humanwissenschaften, Philosophie, Literatur) weil er „das menschliche Wesen in seiner Ganzheitlichkeit“ kennenlernen wollte. Von 1955 - 1959 war er in der Kath. Universität Lima eingeschrieben.

 

Aufgrund seiner herausragenden intellektuellen Fähigkeiten schickte man ihn zuerst an die Kath. Universität in Löwen (Belgien), wo er seine Ausbildung in Philosophie und Psychologie komplementieren konnte. Als Student der Theologie hatte er dann nach 1955 auch die Möglichkeit, in Lyon (Frankreich) seine Theologiestudien zu beenden und in Pastoraltheologie zu promovieren. In den beiden genannten europäischen Universitäten lernte er international bekannte Theologen wie Henry de Lubac, Yves Congar, Marie Dominique Chenu und Edward Schillebeeckx kennen. Dieser Kontakt ermöglichte ihm, die „Nouvelle Theólogie” von Grund auf kennenzulernen. Darüber hinaus befasste er sich intensiv mit der Theologie von Karl Rahner, J.B. Metz und Hans Küng, ebenso mit der protestantischen Theologie von Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer. In Löwen war er Studienfreund von Camilo Torres (Kolumbien). Alle diese Kontakte und Studien befähigten ihn, schon während des Konzils, dann aber vor allem in den kirchlichen Aufbrüchen in Folge des Konzils, eine führende und wegweisende Rolle zu spielen.

 

1959 wurde Gustavo in Lima - endlich - zum Priester geweiht. Warum so spät und warum diese „Umwege“ über Europa? Die Seminarleitung in Lima und die peruanische Bischofskonferenz sahen große Probleme (vorsichtig ausgedrückt), einen jungen Mann mit einer schweren Behinderung zum Priester zu weihen. Schließlich sei ein Priester „Stellvertreter Gottes“ bzw. er verkörpere schließlich Jesus Christus. Dank der massiven Intervention von Bischof José Dammert und dem Segen von Bischof Landázuri, dem späteren progressiven Kardinal von Lima, wurde er schließlich doch zur Priesterweihe zugelassen. Dammert war von 1952 bis 1958 Vizerektor der Kath. Universität Lima und von 1957 bis 1962 erster Generalsekretär der peruanischen Bischofskonferenz. Diese „Umwege“ über Europa sollten sich als Segen für die Theologie und für Gustavo selbst erweisen (siehe oben). Als Bischof von Cajamarca (1962-92) lud Dammert seinen „Schüler“ Gustavo immer wieder nach Cajamarca ein und Gustavo bezeichnete Dammert als seinen „geistigen Vater“.

 

2. Auf dem Weg zu Medellín und einer Option für die Armen


Führender Theologe und Berater vieler Vorbereitungstreffen für die Vollversammlung lateinamerikanischer Bischöfe in Medellín 1968 war seit 1966 Gustavo Gutiérrez. So hielt er z.B. 1967 in Montreal einen viel beachteten Vortrag mit dem Titel: „Die Kirche und die Armut“. Er bezeichnet darin die massenhafte Armut in Lateinamerika als skandalös, als nicht hinnehmbar und schließlich als Frucht der Ungerechtigkeit und der Sünde der Menschen. Diesen Zustand nicht nur hinzunehmen, sondern ihn gar zu rechtfertigen und die Menschen zu vertrösten auf eine Belohnung im Jenseits, widerspricht völlig der Botschaft Jesu. Auf der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Medellín (1968) wurde seine Interpretation von Armut übernommen. Auf einer vorbereitenden Konferenz in Chimbote (Peru) im Juni 1968 spricht er schließlich erstmals explizit von einer „Theologie der Befreiung“.

 

Die meisten lateinamerikanischen Theologen bezeichnen die „Option für die Armen“ (um der Armen willen und an ihrer Seite!) als die wichtigste Aussage von Medellín - obwohl diese Option gar nicht explizit aufgeführt wird. Es geht um das „Kap.14, Armut“ in den Dokumenten. Es wurde von Bischof Dammert vorgetragen und er hat es mit Hilfe von Gustavo Gutiérrez ausgearbeitet. Dieses Kapitel 14 wird von vielen Theologen als das zentrale Dokument der Dokumente von Medellín. Grundlage waren die bereits in der Praxis bewährten Erfahrungen in Cajamarca seit 1963. Gustavo war dort oft zu Besuch und sagte später, dass er ohne die dort gemachten Erfahrungen sein Werk „Theologie der Befreiung“ so nicht hätte schreiben können. Die Diözese Cajamarca wird von lateinamerikanischen Kirchenhistorikern als die Diözese bezeichnet, in der der „Geist des Konzils“ mit am konsequentesten in die Praxis umgesetzt wurde: Als ein „Mehr an der Fülle des Lebens“ für die Ärmsten.

 

Dammert: „Ich darf daran erinnern, dass ich als Präsident der Kommission für die Laien von 1963-1969 aktiv an der Vorbereitung für Medellín beteiligt war. In Medellín selbst war der peruanische Einfluss sehr stark: Landázuri war einer der Präsidenten, Ricardo Durand, Erzbischof von Cusco, leitete die Kommission über die Armut und ich, die über die Laien. Die Beteiligung von Gustavo war wertvoll, besonders in den Abschnitten über Gerechtigkeit und Armut. Bei dem Thema ‚Armut’ erreichte ich die lehramtliche Zustimmung. Das Thema war von Gustavo Gutiérrez ausgearbeitet worden, aber es wurde von mir vorgetragen. Es war das zentrale Thema“. Gustavo: „Pepe (Dammert) war einer der Bischöfe, der am meisten dazu beigetragen hat, dass das Zweite Vatikanische Konzil und Medellín die pastoralen Aktivitäten der lateinamerikanischen Kirche inspiriert haben. Er hat das ernst genommen, was die bestimmende Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts, Johannes XXIII., die Kirche der Armen nannte“ (aus: „Die globale Verantwortung“, S. 14). Zur III. Vollversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe in Puebla, Mexiko (26.1. – 13.2.79), wurden Gustavo und Bischof Dammert bewusst nicht mehr eingeladen. Es war der Beginn der „bleiernen Zeit“ von 1978 – 2013 unter den Päpsten Karol Józef Wojtyła und Josef Ratzinger.

 

3. Der „Vater“ der Theologie der Befreiung


An dieser Stelle kann es nicht um eine Diskussion um die Theologie der Befreiung gehen. Sein Buch „Teología de la liberación - perspectivas“ erschien im Juni 1972 in Spanien (Ediciones Sígueme, Salamanca), in deutsch „Theologie der Befreiung“, mit einem Vorwort von J.B. Metz, (Kaiser-Grünewald, 1973). „Dieses  Buch ist vor allem ein Symptom: Anzeichen dafür, wie lateinamerikanische Theologie der sozialen und politischen Leidensgeschichten der eigenen Völker auf die Spur zu kommen und sie in ihr theologisches Gewissen aufzunehmen sucht“ (Metz, im Vorwort). Gustavo selbst wollte damit keine neue theologische Richtung begründen. Vielmehr wollte er fragen, wie man an einen Gott der Liebe glauben kann, wenn gleichzeitig seine „Kinder“ so viel Unrecht erleiden müssen. „Ich glaube nicht an die Theologie, sondern an Jesus Christus. Die Theologie ist nicht der Grund und/oder das Ziel, es nur ein Werkzeug. Mehr als tausendmal habe ich schon erklärt, dass es sich hierbei um eine Reflexion über die in die Praxis umgesetzte Botschaft Gottes geht - eine Praxis, die ausgeht von der Welt der Armen, ihrer Leiden und Hoffnungen. Dies bedeutet aber auch, diese ´Predigt` in Taten umzusetzen, um im Lichte des Glaubens eine bessere Welt zu erreichen“. „Die Theologie darf sich nicht begnügen, auf die Realität zu schauen, vielmehr muss sie ein Meilenstein in dem Prozess sein, diese zu verändern. Für einen Christen hat dieser Prozess einen tragenden Grund: Die Nachfolge Jesu“. Mit anderen Worten: Es geht darum, die Frohe Botschaft aus der Perspektive derer, die unter die Räuber gefallen sind, wieder neu zu entdecken und entsprechend zu handeln.  

 

Seine Freundschaft mit Kardinal Gerhard L. Müller rief in Deutschland oft Verwunderung hervor. Müller würdigt Gustavo Gutierrez zu dessen 90. Geburtstag am 8. Juni (KNA): „Man spürt einfach, dass er nicht nur ein großer theologischer Denker ist, sondern ein Seelsorger, der die Menschen liebt“. Gutierrez habe dies einmal so ausgedrückt: „Man kann nicht von der Liebe Gottes sprechen und gleichzeitig zusehen, wie Menschen in ihrer Würde mit den Füßen getreten werden.“ Auch heute noch müsse „die Kirche ihre kritische Stimme erheben gegen Ausbeutung, Unterdrückung und alle Angriffe auf die Menschenwürde“. Anders als andere Befreiungstheologen sei Gutierrez nie vom Vatikan gemaßregelt worden, weil er „von Anfang an den theologischen Blick gehabt und nicht nur durch die Brille der Soziologen, Psychologen oder Politologen geschaut“ habe.“. Zu erwähnen ist noch, dass bereits 2013 der neu gewählte Papst Franziskus den Wunsch hatte, Gustavo Gutiérrez treffen. Das Treffen fand am 13.9. in Santa Marta, Rom, statt und endete in einem gemeinsamen Gottesdienst mit Kardinal Müller als Konzelebrant. (Siehe: G.L. Kardinal Müller: „Armut. Herausforderung für den Glauben“, Kösel 2014).

 

Bei dem Besuch des Papstes in Peru (18. - 21.1.18) traf sich der Papst erneut mit Gustavo und beglückwünschte ihn zu dessen 90. Geburtstag in einem persönlichen Schreiben (28.5.18): „Ich danke dir für all das, was du für die Kirche und Menschheit mit deinem theologischen Dienst und deiner Liebe für die Armen und Ausgestoßenen dieser Welt geleistet hast - damit niemand gleichgültig bleibe angesichts des Dramas der Armut und der Exklusion“.

Bis heute ist der 90jährige noch Theologieprofessor der Universität Notre Dame in Indiana, USA und Gastprofessor der päpstlichen Universität Thomas von Aquin, Rom (Angelicum). Als Gründer des CEP (Centro de estudios y publicaciones, Lima) und des IBC (Instituto Bartolomé de Las Casas, Lima) fungiert er dort noch als Berater, ebenso ist er Mitglied im Redaktionsteam der theol. Zeitschrift Concilium und der Vereinigung „Theologen der Dritten Welt“ (AETWOT).

 

4. Persönliche „Begegnungen“ mit Padre Gustavo

a) Im WS 1972/73 hatte sich in St. Georgen, der Hochschule der Jesuiten Frankfurt,  der erste "Studienkreis Theologie der Befreiung" in Deutschland gebildet, noch vor Erscheinen der deutschen Ausgabe des Buches "Theologie der Befreiung" von Gustavo Gutiérrez. Er wurde von lateinamerikanischen Mitstudenten (Doktoranden, mit konkreten Erfahrungen aus LA) initiiert und getragen. Einzige deutsche Mitarbeiter waren Christian Herwartz und ich. Die Patres Semmelroth und Grillmeier waren kritische Begleiter - einige Male auch mit Karl Rahner, der damals des Öfteren ST. Georgen besuchte. Das im Sommer 1972 erschienene Buch von Gutiérrez erschien uns wie ein Befreiungsschlag. Was schon lange in der Luft lag, wurde nun - so unser Eindruck - erstmals zusammengefasst, systematisiert und vertieft. Einige Dokumente waren uns bereits bekannt: Die 10. Versammlung von CELAM 1966 in Mar del Plata, hier besonders der Beitrag von Dom Helder Camara; die Erklärung der Laien über die Kirche, Peru 1968; selbstverständlich die Dokumente von Medellín und die Erklärung der „Bischöfe der Dritten Welt“ im August 1967. Nicht zu vergessen sind die weit verbreiteten Botschaften von Camilo Torres und die Diskussion um die Enzyklika „Populorum Progressio“ von Paul VI., 1967. Aber erst das Werk von Gutiérrez war die Initialzündung für die Gründung des Arbeitskreises und war für mich letztlich mit auschlaggebend, Theologie zu studieren. Aus diesem Kontext heraus schrieb ich 1974 meine Seminararbeit „Eine barbarische Theologie - Von einer Praxis der Herrschaft zu einer Praxis der Befreiung“.

 

b) In Peru konnte ich dann Gustavo des Öfteren treffen. In den von ihm geleiteten „Sommerkursen Theologie“, jeweils im Februar, trafen sich meist mehr als 1.000 Delegierte aus den vielen Basisgemeinden in Peru. Ich begleitete stets eine Gruppe von Campesino-Katechet*innen aus Bambamarca (Diözese Cajamarca). Nach unserer Rückkehr teilten wir das, was wir gehört und gelernt hatten mit den 200 Campesinogemeinschaften (comunidades) der Pfarrei Bambamarca. Gustavo besuchte auch noch in den 70er Jahren die Diözese Cajamarca. Mit Interesse begleitete er das Entstehen des Glaubensbuches der Campesinos „Vamos caminando - mit Christus auf dem Weg der Befreiung“ (CEP, Februar 1977).

 

c) In Zusammenarbeit dem Instituto Bartolomé de Las Casas (IBC) Lima, war ich im Rahmen einer breit angelegten Studie von 1997 - 2004 jedes Jahr für mehrere Wochen in Peru (Lima und Cajamarca). Dabei konnte ich die Arbeit des IBC besser kennenlernen. Im Archiv des IBC fand ich u.a. die sehr ausführliche Korrespondenz zwischen Dammert und Gutiérrez. Zudem hatte ich exklusiven Zutritt zu dem Privatarchiv von Bischof Dammert. 2001 erschien als Zwischenergebnis der Studie der Sammelband: „Die globale Verantwortung“ (Hg. E. Klinger, W. Knecht, O. Fuchs). Für diesen Sammelband konnte ich Gustavo gewinnen, einen Artikel über Bischof Dammert zu schreiben, sein Titel: „Pepe!“ Gustavo wollte diese Bitte nicht abschlagen, obwohl er sich damals in einer sehr schwierigen und schmerzensreichen Situation befand. Kardinal Cipriani (Opus Dei), Erzbischof von Lima, verhängte seinem Diözesanpriester Gustavo Gutiérrez öffentliches Rede- und Schreibverbot. Gustavo fand schließlich „Asyl“ bei den Dominikanern in Lyon. Er trat als Novize in den Orden der Dominikaner ein. Der Ordensobere Timmoty Radcliffe hatte ihm volle Freiheit für seine weitere wissenschaftliche Arbeit zugesichert. Bemerkenswert ist, dass über die Situation von Gustavo Gutiérrez, weder in Peru noch in Deutschland, wenig berichtet, geschweige denn protestiert wurde - wohl bezeichnend für jene „bleierne Zeit“Auch die Arbeit des IBC, dessen Präsident Gustavo war, wurde von Cipriano derart personell ausgedünnt und inhaltlich behindert, dass eine sinnvolle Arbeit kaum noch möglich war.

 

d) Vom 11. - 19. Januar 2013 fand in Lima das Kontinentaltreffen der in Lateinamerika tätigen deutschen Diözesanpriester - Fidei Donum - statt. Das Thema: „50 Jahre danach - die prophetische Herausforderung des 2. Vatikanischen Konzils“. Von 120 Priestern waren etwa die Hälfte gekommen, dazu erstmals auch Weltpriester aus der Schweiz und Österreich. Mehrere peruanische Bischöfe sprachen Grußworte, u.a. der Erzbischof von Huancayo Pedro Barreto, der am Pfingstsonntag 2018 zum Kardinal ernannt wurde. Als Gäste waren eingeladen, u.a.: Gustavo Gutiérrez und Bischof Fritz Lobinger (Südafrika). Ich selbst durfte über die befreiende Pastoralarbeit in Cajamarca von 1962 - 1992 referieren.

 

Höhepunkt des Treffens war der Vortrag von Gustavo Gutiérrez. In großer geistiger Klarheit fasste er die wesentlichen Aussagen des Konzils und von Medellín zusammen, hier in Stichworten: Das Konzil hatte drei Schwerpunkte: Präsenz der Welt in der Kirche und umgekehrt - Ökumene - Armut. Letzteres wurde am wenigsten aufgenommen, war dann aber zentral in Medellín. Kardinal Larraín und Dom Helder Camara drängten darauf, das Thema Armut aufzugreifen, sonst bliebe das Konzil ohne Bedeutung für Lateinamerika. In Medellín war es ein zentrales Anliegen, das Elend des Volkes als die theologische und kirchliche Herausforderung zu verstehen. Armut ist nicht nur ein soziologisches Problem, sondern ist zentral theologisch und ekklesiologisch. Medellín ist aber in Europa nicht bekannt, zentrale Aussagen von Kirchesein sind daher nicht bekannt > die entsprechende Theologie ist nicht bekannt > das Konzil wird verkannt. Rahner, Congar, Chenu u.v.a. machten zwar „große Theologie“, aber ohne den Kontext des weltweiten Elends zu berücksichtigen und ohne von den Opfern her zu denken und zu handeln. Theologie bedeutet immer im Dialog mit der Welt zu stehen, speziell mit der Welt der Armen und den Ursachen der Armut. Glaubwürdigkeit, Wahrhaftigkeit, Orthodoxie zeigen sich in einer konkreten Praxis und was daraus entsteht im Hinblick auf ein Mehr an Würde und Rechten der Menschen.

Dazu bedarf es einer erneuerten Spiritualität, nämlich in dem unter die Räuber Gefallenen das Antlitz des gekreuzigten Christus entdecken und es bedarf einer erneuerten Evangelisierung, die den Ausgestoßenen ausgeht, nicht von den „Herren des Tempels und der Schrift“.

Soweit Leben, Werk und die Botschaft von Padre Gustavo Gutiérrez.

 

Dr. theol. Willi Knecht
Homepage:
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Kritik an der europäischen Theologie - hier an Moltmann und Metz (geschrieben im November 1973 ! )

Es kann hier nicht um eine Auseinandersetzung mit der europäischen Theologie gehen. Ausgewählt sind einige Vertreter, die sich mit der TdB etwas intensiver beschäftigt haben, die aber entsprechend ihres eigenen Standortes gar nicht anders können, als die TdB vor allem als irgendeine zusätzliche „modische“ Erscheinung zu betrachten, als eine unter vielen anderen Theologien. Von der Mehrzahl der Theologen (ausgenommen Theologen wie Rahner SJ, Schillebeeckx OP u.a.) ganz zu schweigen...!

 

1. Gutiérrez an Metz:

Metz setzt sich zu wenig (wenn überhaupt) mit dem wirtschaftlichen, sozialen und politischen System des weltweiten Kapitalismus und der BRD als wichtiger Player innerhalb des Weltwirtschaftssystems auseinander. Mangelnde Situationsanalyse führt zu mangelnder Konkretheit. Metz selbst gibt zu, von Ökonomie, Soziologie und Politik wenig zu verstehen.

Dies ist aber für die TdB eine Voraussetzung, um die gegenwärtige Zeitsituation (Kairos) theologisch angemessen analysieren zu können. Denn eine solche Analyse ist unbedingt notwendig, um wirksam und zeitgemäß das Evangelium verkünden zu können. Adressat des Evangeliums und von Jesus selbst sind die Menschen, die in einer bestimmten Situation leben, zur Zeit Jesu eben in einer Situation massiver politischer Unterdrückung, wirtschaftlicher Ausbeutung (seitens der Römer und der eigenen Oberschicht) und einer Religion, deren Führer an denen vorbei gingen, die unter die Räuber gefallen sind.

 

Zu heute: Wer nicht erkennt (erkennen will), wozu ein liberal-kapitalistisches System führt, noch wie es funktioniert, bleibt logisch innerhalb dieses Systems gefangen (oder fühlt sich gar sehr wohl), da er es nicht durchschaut. Ein solches Gefangensein in einer kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung mit seinen Werten, Idolen, Glaubenssätzen und Ideologien (Illusionen und Opium für das Volk) verhindert aber eine adäquate Verkündigung der befreienden Botschaft von der Ankunft der Herrschaft Gottes. Es verhindert ein wirkliches Verstehen der christlichen Botschaft und missachtet den Glauben an die Menschwerdung Gottes inmitten seines geschundenen Volkes und an die - trotz allem, weil Gott es so will - Auferstehung und Überwindung dieser dem Menschen unwürdigen Verhältnissen.

 

Von all dem ist von Metz (und fast allen europäischen Theologen) aber wenig zu hören. Denn Metz lebt wie alle (west-) europäischen Theologen in einer Wohlstandsgesellschaft und kennt aus eigener Erfahrung weder Hunger, (im und nach den Weltkriegen schon, dies war aber nicht ausweglos und „nur“ temporär, wenn auch schlimm genug), keine schreiende Ungerechtigkeit und keine Unterdrückung. Daher ist es ihm (und allen anderen) kaum oder nur sehr schwer möglich, je in seiner Fülle zu verstehen, was es heißt, arm, ausgebeutet und verfolgt zu sein (etwas zynisch ausgedrückt: die Nazi-Zeit wäre ein gutes Übungsfeld gewesen). Umgekehrt und abhängig davon ist er deshalb nicht in der Lage, richtig erfassen zu können, was Befreiung bedeutet. Er kennt nicht die Sehnsüchte der Menschen nach integraler Befreiung, den Hunger nach dem täglichen Brot und nach Gerechtigkeit. Er kann den Wunsch nach elementarer Befreiung, wie ihn viele Menschen in der Welt (und auch zur Zeit Jesu) haben, nicht mit ihnen teilen. Logischerweise fehlt ihm auch die bittere und positive Erfahrung, die bestimmte Menschen in ihrem Aufstand gegen Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Elend machen (müssen).

 

Als weiteres geht Metz von der Situation in Wohlstandgesellschaften und der herrschenden Länder aus, so dass ihm zwangsweise der Blick durch die Brille der Menschen in den beherrschten Ländern fehlt. Man könnte natürlich sich von diesen Menschen erzählen lassen, was angesichts dieser Situation christlicher Glaube, Hoffnung und Liebe bedeutet. Doch die europäische Theologie hatte und hat immer Recht…. Man kreist stattdessen lieber permanent um sich selbst, weil man sonst nichts hat, um das man sich drehen kann. All dies trägt dazu bei, dass der Begriff des Politischen, auf den Metz so großen Wert legt (eigentlich mit Recht) stets auf der Ebene des Abstrakten bleibt. Es ist Theologie nach dem alten Muster, wenn auch mit einigen neuen Inhalten, die aber verpuffen, weil der Ausgangspunkt (Standort) sich nicht ändert; biblisch gesprochen: es gibt keine Umkehr. Dennoch bewertet Gutiérrez die politische Theologie von Metz als fruchtbaren Versuch einer neuen Theologie, die sich positiv von der traditionellen Theologie abhebt.

 

Meine persönliche Meinung dazu ist, dass die Befreiungstheologen sich noch viel zu sehr an den Vorgaben der europäischen Theologie abarbeiten. Sie müssten sich eigentlich nicht rechtfertigen, sondern mehr darauf bestehen, dass hier zum ersten Mal in der Kirchengeschichte (von den ersten „Vätern“ abgesehen) eine nicht europäische Theologie entstanden ist, die aus der Perspektive der Opfer die Bibel liest und deutet. Diese Art und Weise Theologie zu betreiben ist der urchristlichen (Gemeinde-) Theologie und Praxis viel näher als der der Weg der europäischen Theologie, in der griechisch-heidnische Vorstellungen und Begriffe wichtiger zu sein scheinen als die Worte Jesu und die zudem sich selbst durch ihre Geschichte der Eroberung und der Rechtfertigung autoritärer Systeme (auch der Kapitalismus gehört dazu) sich selbst disqualifiziert. Dennoch: Gerade deswegen ist ein Dialog mit Europa so wichtig, damit das Evangelium auch den Europäern zum Heil gereiche - Umkehr inbegriffen.)

 

2. Gutiérrez an Moltmann (Theologie der Hoffnung)

Auf Moltmann trifft das oben Genannte ebenfalls zu. Moltmann redet zudem noch weniger als Metz von Unterdrückung und Ausbeutung. Für Moltmann ist Hoffnung etwas Transzendentales, weil sie sich auf keine bestimmte geschichtliche Situation bezieht. Sich auf etwas Konkretes zu beziehen, wäre in den Augen dieser Theologen reine Subjektivität, nicht übertragbar etc., meinen sie doch, ewige Wahrheiten abgetrennt von einer bestehenden Wirklichkeit formulieren zu können, mehr noch: sie glauben sich im Besitz dieser einen Wahrheit. Ob dies die Menschen berührt oder nicht, ist letztlich egal, es ist auch egal, ob sie dies verstehen oder nicht. Das alles ändert nichts an der Wahrheit. Daher ist es auch egal, welches Schicksal die Menschen erleiden und warum sie dies erleiden.

 

Ohne näher darauf einzugehen sei festgehalten, dass dies in seiner Konsequenz eine Leugnung der Menschwerdung Gottes ist, eine Leugnung des Todes und der Auferstehung Jesu. Gott wird bei Moltmann zwar als Motor der Geschichte gesehen, ohne aber im Geringsten darauf einzugehen, was das konkret bedeuten könnte. Vor allem aber ist es in dieser Sichtweise nicht notwendig oder gar gefährlich, sich als Mensch in der Geschichte zu engagieren. Dies könnte als Misstrauen in die Vorsehung Gottes ausgelegt werden, als ob der Mensch alles selbst richten könnte. Moltmann operiert mit „antizipatorischen Begriffen, die die Wirklichkeit nicht radikal hinterfragen“, so Gutiérrez. Doch ähnlich wie bei Metz sieht er bei Moltmann viele neue und hoffnungsvolle Ansätze.

 

In der Zeit zaghafter kirchlichen Aufbrüche infolge des 2. Vaticanum wurde die einzige Demokratie in Südamerika unter Anleitung der USA gestürzt (Chile) und der Versuch eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen, im Blut erstickt. In Vietnam und Kambodscha treibt der systematische Völkermord „im Namen der Demokratie“ seinem finalen Höhepunkt zu, blutrünstige Militärdiktatoren überall werden von USA unterstützt, Millionen Menschen verhungern jährlich, weil man ihnen die Lebensgrundlagen raubt, während in Kuba seit der Revolution 1959 kein Kind mehr an Hunger gestorben ist… ! Doch der Herr Professor regt sich darüber auf, dass es in Kuba angeblich keine Versammlungsfreiheit gäbe. Dies ist ein typisches Beispiel intellektueller Verkommenheit, von Moral und Verantwortung ganz zu schweigen. Solche Theologen kann man hier gut gebrauchen, solche Theologen machen sich bereitwillig zu „Hoftheologen des Pharao“, etwas liebevoller ausgedrückt: sie machen sich zum Affen, ohne zu merken, wem sie in Wirklichkeit dienen. Das sind eben die praktischen Folgen einer weltfremden Theologie und dem Verkünden einer „objektiven Wahrheit“.

 

3. Persönliches Fazit (hier nur bruchstückhaft möglich):

a) Die politische Theologie ließ sich zu sehr von der konservativen Kritik, die sie hervorrief, verwirren. Man ließ sich danach zu sehr in sekundäre und abstrakte Gelehrtendiskussionen ein, und blieb dabei unter sich. Die politische Theologie verlor so viel von ihrer ursprünglichen Aussagekraft und Eindeutigkeit. (Dasselbe könnte ich zur aktuellen Diskussion mit der TdB sagen. Allerdings hängt diese Wahrnehmung wohl damit zusammen, dass bei uns zuerst die Theologen Lateinamerikas wahrgenommen werden, während die Basis, aus der heraus diese Theologie entsteht, zu sehr im Dunkeln bleibt).

 

b) Lateinamerikanische (neuerdings gottlob auch afrikanische Theologen) werfen ihren europäischen Kollegen vor, aus Angst die Dinge nicht beim Namen zu nennen, z.B. die Mechanismen der Herrschaft genau zu benennen. Stattdessen wird endlos darum herumgeredet. Intellektuelle Sektiererei und gelehrt klingende aber umso hohlere Phrasen sind die Folge. Man redet in allgemeiner und abstrakter Form, vielleicht um des lieben Friedens willen (oder sich selbst und seine gute Position nicht allzu sehr zu „gefährden“) oder um niemanden auf die Füße zu treten. Ein Grund dafür ist meines Erachtens, dass „unsere Theologen“ meinen, von ihrem hohen Lehrstuhl herunter die Welt deuten zu können („ex cathedra“). Vor allem aber stehen sie nicht in einem existentiellen Kampf um ihr eigenes Leben und ihre eigene Würde, wie z.B. die ersten Christen und heute viele Christen in Lateinamerika. Sie Standorte sind völlig verschieden.

 

c) Trennung von Dogmatik und Ethik: Eine solche Trennung verhindert eine Beschäftigung mit der historischen Praxis: Man sucht „ruhige Meere“ oder sonstige beschauliche Orte, wie die Dogmatik, die angeblich nichts mit dem wirklichen Leben zu tun hat, und schiebt die Beschäftigung mit der Welt und ihren Problemen der Sozialethik bzw. Sozialmoral zu (z.B. hier in St. Georgen: unter 23 notwendigen Seminarscheinen befindet sich 1 Schein, bei dem um soziale Probleme (und Ökonomie) und die Wirklichkeit der Menschen geht, die anderen 22 Scheine haben höchstens entfernt bzw. gar nichts damit zu tun).

 

Doch hier werden Seelsorger ausgebildet, die sich - laut Vatikanum II - zuerst mit den Menschen mit ihren Freuden und Ängsten beschäftigen bzw. ihnen dienen sollten. „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Ist doch ihre eigene Gemeinschaft aus Menschen gebildet, die, in Christus geeint, vom Heiligen Geist auf ihrer Pilgerschaft zum Reich des Vaters geleitet werden und eine Heilsbotschaft empfangen haben, die allen auszurichten ist. Daher wendet sich das Zweite Vatikanische Konzil an alle Menschen in der Absicht, allen darzulegen, wie es Gegenwart und Wirken der Kirche in der Welt von heute versteht. … Zur Erfüllung dieses ihres Auftrags obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten“.

Wie aber sollen die Seminaristen dies je lernen bzw. erfahren können?

 

Schlusswort

Die Liebe als Grundlage des Lebens und des Evangeliums und als geschichtlich befreiende Praxis, kann nicht auf eine einfache ethische Kategorie reduziert werden. Sie ist vielmehr die Basis jeder Theologie, jeder Praxis und sogar jeder Dogmatik. Liebe hat notwendigerweise eine soziale, eine politisch - öffentlich - gesellschaftliche Dimension. Sie drängt auf gesellschaftliche Veränderung, findet sich nicht ab mit ungerechten Verhältnissen, drängt auf Überwindung der Kluft zwischen Armen und Reichen.

 

Wie könnte ich meinen Nächsten, der unter die Räuber gefallen ist, lieben, ohne gleichzeitig mit aller Macht darauf zu drängen, dass so etwas nie mehr passieren darf, dass die „Wege nach Jerusalem“ sicherer gemacht oder ganz umgebaut werden? Liebe heißt daher zuerst Solidarität mit den Opfern, den Verfolgten und Ausgebeuteten und als Folge ein Kampf gegen von Menschen gemachte Strukturen, die auf Ausbeutung beruhen. Unter bestimmten historischen Umständen kann Liebe in seiner bedingungslosen Hingabe dazu führen, dass man mit seiner eigenen Klasse und Herkunft brechen muss (Sicherheit, Wohlstand, Bequemlichkeit) um als Armer unter Armen und mit den Armen für eine gerechtere Gesellschaft zu kämpfen. Nachfolge Jesu bedeutet, genau dies zu tun.

 

Priestersein - ob Mann oder Frau - bedeutet dann, diese Nachfolge in seiner radikalsten Form und Hingabe an die Menschen zu leben, die unter die Räuber gefallen sind. Das Besondere des Priestertums besteht nicht darin, durch eine exklusive Weihe Gott näher zu sein, das „Opfer des Zölibats“ auf sich zu nehmen und sich einem Bischof zu unterwerfen, sondern in der Nachfolge Jesu den Menschen der Nächste zu sein, Bruder und Schwester, denen man alles geraubt hat, um als Mensch und Kind Gottes in Würde leben zu können.


Dr. theol. Willi Knecht
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Zuletzt geändert am 24­.10.2024