25. Mai 2008 - El Pais
Kardinal Martini ruft zur Reform der Kirche auf
Buchtipp: Carlo M. Martini, Georg Sporschill: Jerusalemer Nachtgespräche. Über das Risiko des Glaubens. Verlag Herder, 144 Seiten, ISBN 978-3-451-05979-7, 8,95 Euro |
Artikel von Juan G. Bedoya, El Pais
Der einflussreiche Kardinal lobt Luther, verteidigt die Debatte über Zölibat und Frauenordination und fordert die Öffnung des Vatikans auf dem Gebiet der Sexualität.
„Die Kirche muss den Mut haben, sich zu reformieren.“ Dies ist die Grundidee von Kardinal Carlo Maria Martini (Turin, 1927), eines der großen zeitgenössischen Kirchenmänner. Mit Lob für den protestantischen Reformer Martin Luther ruft der Kardinal die katholische Kirche dazu auf, über „Ideen“ zu diskutieren bis hin zur Möglichkeit einer Ordination von „viri probati“ (verheiratete, im Glauben bewährte Männer) und für Frauen. Darüber hinaus fordert er eine Enzyklika, die Schluss macht mit Verboten aus „Humanae Vitae“, die 1968 von Paul VI. mit unnachsichtigen Zensuren in Sachen Sexualität herausgegeben wurde.
Kardinal Martini war Rektor der Gregorianischen Universität in Rom, Erzbischof der größten Diözese der Welt – Mailand – und hätte Papst werden können. Er ist Jesuit, veröffentlicht Bücher, schreibt in Zeitungen und debattiert mit Intellektuellen. Im Jahr 1999 forderte er vor der Synode der europäischen Bischöfe die Einberufung eines neuen Konzils, um die vom II. Vatikanischen Konzil (Rom, 1962 - 1965) zurückgestellten Reformen zu vollenden. Dies wird heute wieder aktuell, denn in Deutschland ist (bei Herder) sein Buch „Jerusalemer Nachtgespräche“ wie ein spirituelles Testament des großen Denkers erschienen. Mitautor ist Georg Sporschill, ebenfalls ein Jesuit.
Unverblümt, klar und deutlich ist das, was Martini von den Autoritäten des Vatikans fordert: den Mut sich zu reformieren, konkrete Änderungen, beispielsweise in der Behandlung von Fragen der Sexualität, ein Thema, das immer wieder Nervosität und Zorn der Päpste auslöst, da sie nun einmal unverheiratet sind.
Das Zölibat, argumentiert Martini, muss Berufung sein, weil „wohl nicht jeder das Charisma hat“. Er erwartet zudem die Genehmigung von Kondomen. Und er erschrickt auch nicht vor einer Debatte über das Priestertum, das den Frauen verwehrt wird, denn „immer mehr Pfarreien nur einem Pfarrer zu überlassen oder Priester aus dem Ausland zu importieren, sind keine Lösung“. Er erinnert den Vatikan daran, dass es im Neuen Testament Diakoninnen gab.
Mehrere europäische Zeitungen haben bereits wiederholt Resonanzen zu dem Buch „Jerusalemer Nachtgespräche“ veröffentlicht. Sie betonen die Ermahnung des Kardinals, nicht vom Zweiten Vatikanischen Konzil abzuweichen und keine Angst davor zu haben, sich (den Fragen der; d.Übers.) jungen Menschen zu stellen.
Insbesondere was Sexualität unter jungen Menschen betrifft, bittet Martini darum, Beziehungen und Gefühle nicht gering zu achten, indem sie lernen, das Beste für die Ehe aufzusparen. Er bricht die Tabus Pauls VI., Johannes Pauls II. und des aktuellen Papstes Joseph Ratzinger. Wörtlich: „Leider hat die Enzyklika Humanae Vitae negative Folgen gehabt. Paul VI. wich dem Problem den Konzilsvätern gegenüber bewusst aus. Er wollte die Verantwortung für die Entscheidung gegen Empfängnis verhütende Mittel übernehmen. Dieser Alleingang in der Entscheidung wurde auf lange Sicht keine positive Voraussetzung für den Umgang mit Fragen der Sexualität und der Familie.“ Vierzig Jahre nach dem Konzil plädiert der Kardinal für eine neue Sichtweise“ auf dieses Thema. „Wer die Kirche heute leitet, kann auf einen besseren Weg als auf den von Humanae Vitae vorgeschlagenen hinweisen“, behauptet er. Hinsichtlich der Homosexualität äußert der Kardinal scharfsinnig: „Untermeinen Bekannten gibt es homosexuelle Paare, hochgeschätzte uns soziale Männer. Noch nie hat man mich gebeten, noch wäre es mir je eingefallen, sie zu verurteilen.
In dem o.a. Buch offenbart sich Martini mit dem Gewicht seiner ganzen Persönlichkeit und einer grenzenlosen intellektuellen Neugier. Bis hin zu dem Punkt dass er bekennt, als Bischof Gott einmal gefragt zu haben „Warum gibst Du uns keine besseren Ideen? – Warum machst Du uns nicht stärker in der Liebe und mutiger, den aktuellen Problemen zu begegnen? – Warum haben wir so wenige Priester?
Heute, im Ruhestand und krank – er verließ soeben Jerusalem, wo er lebte und sich dem Studium der Heiligen Texte widmete, um von den Ärzten in Italien behandelt zu werden -, beschränkt er sich darauf, „Gott zu bitten, ihn nicht im Stich zu lassen“.
Abgesehen davon, Luther zu loben, spricht Kardinal Martini von seinen Glaubenszweifeln, mit Hinweis auf jene, die Teresa von Kalkutta hatte. Er spricht auch von den Risiken, die ein Bischof auf sich nehmen muss. Als Beispiel nennt er seine Reise in ein Gefängnis, um miteiner militanten Gruppe der Roten Brigaden zu sprechen. „Ich hörte ihnen zu, betete für sie und taufte sogar Zwillinge, deren Eltern Terroristen waren und die während einer Gerichtsverhandlung geboren waren“, erzählt er.
„Ich habe Probleme mit Gott gehabt“, gesteht er an einer Stelle. Es war, weil ich nicht verstehen konnte, warum Er seinen Sohn am Kreuz leiden ließ“. Und weiter: „Auch als ich Bischof war, konnte ich das Kreuz manchmal nicht anschauen, weil die Zweifel mich quälten. Es gelang mir auch nicht, den Tod zu akzeptieren. Hätte Gott nach Christi Tod das nicht den Menschen ersparen können?“
Später verstand er: „Ohne Tod könnten wir uns Gott nicht hingeben (anvertrauen?; d.Übers.) Dann hielten wir uns ein paar Sicherheitstürchen auf. Aber nein. Wir müssen die eigene Hoffnung in Gottes Hände legen und an ihn glauben.“
Seit Jerusalem sieht er das Leben anders, vor allem die „Paraphernalia“ (Wikipedia: Mit Paraphernalien bezeichnete man das persönliche Eigentum der Braut, welches neben der Mitgift in die Verwaltung des Ehemannes übergeht, ebenso wurde der Begriff für Grabbeigaben verwendet.) Roms. Nach Martinis Worten ist es das: “Es gab eine Zeit, in der ich von einer Kirche in Armut und Demut geträumt haben, nicht abhängig von den Mächtigen dieser Welt, einer Kirche, die weiter denkenden Menschen Raum gibt, einer Kirche, die Mut macht, besonders denen, die sich klein oder als Sünder fühlen; einer jungen Kirche. Heute habe ich diese Träume nicht mehr. Nach fünfundsiebzig Jahren habe ich beschlossen, für die Kirche zu beten.“
„Nie wieder ein Fall Galileo“
Kardinal Martini war immer bestrebt, Diskussionen zwischen Laien und Katholiken zu ermöglichen. Er wollte sich dabei auch je Punkte nicht auslassen, bei denen ein Konsens unmöglich scheint. Mit dieser Absicht eröffnete er eine der gehaltvollsten Debatten unter zeitgenössischen Intellektuellen, die 1995 in Italien unter dem Titel „In cosa crede qui non crede?“ (Was glauben die, die nicht glauben?) veröffentlicht wurde. Es handelt sich dabei um einen Briefwechsel zwischen dem Kardinal und Umberto Eco zu Themen wie „wann beginnt das menschliche Leben“ - „das Priestertum, das den Frauen verwehrt wird“ – „Ethik und wie man sie finden kann“, „die Laien“, „das Licht des Guten“. Ein Teil der katholischen Hierarchie nahm an dieser Kontroverse mit unverhohlenem Unbehagen teil, aber zehn Jahre später stellte sich derselbe Kardinal Joseph Ratzinger, jetzt Papst Benedikt XVI., einer ähnlichen Debatte über die Beziehung zwischen Glauben und Vernunft mit dem deutschen Philosophen Jürgen Habermas.
Im Jahr 1995 bedauerte Kardinal Martini, dass seine Kirche angesichts der Gegenwart in verzweifelter Resignation versinkt. Er sprach auch aufrichtig mit Eco über die Angst vor der Wissenschaft und der Zukunft. Zu jener Zeit griff er ins „Schatzkästlein des Scharfsinns“, äußerte anerkennend sein Kontrahent. Martini nahm zu Zeugen die Klugheit des Thomas von Aquin. Denn jener hatte seinerzeit in ähnlichen Verlegenheiten Angst vor Rom, das im Begriff war, den zu bestrafen, der heute einer seiner berühmtesten Lehrmeister ist.
Der Kardinal, nun schon im Ruhestand, d.h. freier als bei der Ausübung hierarchischer Verantwortungen, drückt sich in seinem neuen Buch mit dem Scharfsinn aus, dessen er sich früher in Auseinandersetzungen mit Umberto Eco bediente, aber er bringt für seinesgleichen überraschende Gesichtspunkte zur Sprache, so auch Geburtenkontrolle und Kondome. Sein Lob für Martin Luther klingt wie ein Peitschenknall, ebenso die Herausforderung an Rom, damit es mit Mut einige der Reformen durchführe, die zu seiner Zeit der deutsche Mönch forderte.
Auf dem Hintergrund seiner jetzigen Meinungsäußerungen, in denen der Kardinal bisweilen angstvoll erscheint, entsteht die endlose Debatte der Auseinandersetzung der Römischen Kirche mit der Wissenschaft und dem modernen Denken. Und wiederum ist es en Jesuit, der die Diskussion einleitet, zum Missfallen des Vatikans.
Der Vorteil Martinis ist, dass kein Steinwurf ihn mehr treffen kann.
Auch der Jesuit George Tyrrell, der gebildete irische Thomist, wurde rücksichtslos bestraft und von den Sakramenten ausgeschlossen. Ihm wurde das Begräbnis auf einem katholischen Friedhof verweigert, als er im Jahre 1909 starb. Seine Sünde war – wie bei Martini – „das Recht jeder Epoche zu fordern, den Ausdruck des Christentums den zeitgenössischen Gewissheiten anzupassen, um völlig unnötige Konflikte zwischen Glauben und Wissenschaft, ein rein theologisches Schreckgespenst, zu vermeiden“.
Worum es dem Kardinal geht, ist das gleiche, was diese katholischen Denker anstreben: Kein Risiko mehr zuzulassen, dass es noch einmal einen „Fall Galileo“ geben könnte.
Übersetzung aus dem Spanischen: Elisabeth Sutmöller und Ursula Lehan
> Martini pide la reforma de la Iglesia El Pais 25.5.2008
Zuletzt geändert am 04.06.2008