28. Oktober 2008
Vor 50 Jahren wurde Johannes XXIII. gewählt.
Christian Feldmann porträtiert Johannes XXIII.
Er war ein alter Mann, als er gewählt wurde, vor fünfzig Jahren, am 28. Oktober 1958. In Rom und in der Weltkirche hatte er keinen glanzvollen Namen. Sein einziges Kapital, so schien es, waren sein grundgutes Bauerngesicht und seine Fähigkeit, auf die Menschen zuzugehen. Man hielt ihn für politisch unbedarft und theologisch rückständig; für eine liebe, gute Vaterfigur, aber nicht mehr; für einen charmanten Plauderer ohne Initiative.
Wo kam er denn schon her, dieser Angelo Roncalli? Aus einem armseligen Bauernhaus im lombardischen Sotto il Monte - nie gehört! Als Schuljunge - das brachten eifrige Reporter bald heraus - hatte Angelo zwar Kürbisse geklaut, aber keineswegs durch besondere Noten geglänzt. Er besaß weder Seelsorgspraxis als Gemeindepfarrer noch Kurienerfahrung. Im Gegenteil: In seinen jungen Jahren war er den Kirchenbehörden des "Modernismus" verdächtig erschienen. Damit er nur ja kein Unheil anrichten konnte, hatte ihn der Vatikan auf die unbedeutendsten und entlegensten diplomatischen Posten geschickt, weit fort auf den Balkan.
Mit 63 Jahren dann endlich die ehrenvolle Berufung als Nuntius nach Paris, mit 71 Kardinal und Patriarch des wichtigen Bistums Venedig. Schön und gut, eine Art später Ehrenrettung - aber gleich Papst? Er sei ein klassischer Kompromisskandidat gewesen, konnte man hören. Papa di passagio schrieben die Zeitungen etwas geringschätzig, ein Übergangspapst. Wie recht sie hatten! Der Verlegenheitskandidat von 1958 löste in der katholischen Kirche einen Erdrutsch aus. In den nur viereinhalb Jahren seiner Regierungszeit gewann sie ein menschlicheres, einladenderes Gesicht, öffnete sie ihre Tore weit für die Fragen und Nöte der Menschen "draußen". "Wir sind nicht auf der Erde, um ein Museum zu hüten", hatte er einmal gesagt, "sondern um einen blühenden Garten voller Leben zu pflegen".
„Hallo, Papst, komm her!“
Öffnung statt misstrauischer Abgrenzung. Aufeinander zugehen statt ängstlicher Distanz. Das steckt hinter Roncallis unkomplizierter, menschenfreundlicher Umgangsart, mit der er eine unerhörte Revolution im Vatikan einleitete. Unbekümmert und ohne Begleitung spazierte Johannes durch den Kirchenstaat, plauderte zwanglos mit Arbeitern und Gärtnern, lud sich Gäste zum Mittagessen ein, schaffte die vorgeschriebenen drei Kniebeugen in den Privataudienzen ab. Er fragte die Angestellten des Vatikans nach ihren Gehältern und Familien und verfügte erschrocken eine saftige Lohnerhöhung.
Am ersten Weihnachtsfest seiner Amtszeit erschien Johannes XXIII. nach der Christmette unangemeldet im römischen Kinderkrankenhaus Bambino Gesú, von den kleinen Patienten begeistert empfangen. "Hallo, Papst, komm her!" krähten sie ihm vergnügt entgegen. Lange blieb er am Bett eines Jungen sitzen, der sein Augenlicht verloren hatte. Johannes sagte zu ihm: "Wir sind alle manchmal blind, mein Junge. Vielleicht wird dir geschenkt, dass du mehr sehen kannst als die anderen."
Lauter kleine, aber folgenreiche Signale für die Öffnung, die man als das zentrale Programm dieses Pontifikats bezeichnen könnte. Eine Öffnung, die sich mit den gängigen Begriffen "Wandel", "Anpassung", aggiornamento nur unzureichend beschreiben lässt. Die Kirche, das wünschte sich Johannes, sollte der Welt weder mit hechelnder Zunge nachlaufen noch ihr unkritisch applaudieren. Aber eine Begegnung sollte wieder möglich , werden, angstfrei und ohne Vorurteile. Risiken waren unvermeidlich, wenn eine lange abgeschottete Kirche plötzlich den Dialog mit einer weithin religionslosen Welt wagen sollte. Wie würde sie den Zusammenprall mit anderen Kulturen, Weltbildern, Moralvorstellungen verkraften? Doch das Abenteuer musste man einfach wagen, im Vertrauen auf Gott, vielleicht auch mit ein wenig Lust an der Anarchie, denn für Johannes galt: "Ohne einen Hauch heiliger Verrücktheit kann die Kirche nicht wachsen."
Vielleicht gehört auch das Konzil zu den "heiligen Verrücktheiten", das Zweite Vatikanische Konzil, mit dem Johannes in die Kirchengeschichte einging. Es ist kein spontaner Einfall gewesen, an dieser Legende strickte er gern selbst, aber es war Roncallis ureigenste Idee, ein Plan, den er ohne viel Rückenstärkung durch seine Mitarbeiter zäh und hartnäckig vorantrieb. Von Anfang an war klar, was er mit dieser Kirchenversammlung bezweckte.
"Eine glühende Erneuerung des Lebens der Kirche, eine neue und kraftvolle Ausstrahlung des Evangeliums in der ganzen Welt" sollte das Konzil bringen, das war der Wunsch des Papstes. Bei der Eröffnungssitzung am 11. Oktober 1962 wies Johannes der Versammlung einen Weg, den auch die meisten Sprecher der Weltkirche wünschten: Selbstfindung der Kirche in einer gewandelten Welt, Wiederentdeckung der eigenen Kraftquellen, mutige Antworten auf die Herausforderungen der modernen Zeit und Annäherung der getrennten Konfessionen.
Von einer neuen Menschheitsordnung hatte der Papst damals gesprochen, die sich allmählich herausbilde und zur Hoffnung Anlass gebe. Zur leidenschaftlichen Mitarbeit an dieser Weltgesellschaft ermunterte Johannes die Christen auch in seiner Friedensenzyklika und in seinem Rundschreiben zur Soziallehre Mater et Magistra. Neu war der weltweite Blickwinkel, wenn er eine aktive Solidarität der Industrienationen mit den Elendsländern forderte und eine Wirtschaftshilfe um den Preis politischer Einflussnahme als "neue Form von Kolonialherrschaft" ablehnte.
"Wer glaubt, zittert nicht“
Das Konzil hatte Johannes lediglich eröffnen können, im Herbst 1962. Als er am Pfingstmontag 1963 starb, war erst eine von vier Sitzungsperioden vorüber. Aber die Bischofsversammlung blieb konsequent auf dem von ihm eingeschlagenen Weg. Hier wurden tatsächlich Mauern eingerissen, Türen geöffnet, Leitlinien abgesteckt, von denen man bis heute nicht mehr so einfach abweichen konnte - trotz kräftiger Gegenströmungen.
Die Anerkennung anderer christlicher Gemeinschaften als Kirchen, das Bekenntnis zur Religionsfreiheit, die neue Hochachtung anderen Religionen gegenüber, die Ermunterung eigenständiger Laienaktivitäten, die Solidarität mit den Sehnsüchten und Sorgen der Zeit - es klingt heute alles so selbstverständlich, fast banal, und musste doch damals erst in harten Kämpfen durchgesetzt werden. Johannes war es, der die ökumenische Bewegung im Vatikan sozusagen salonfähig machte. Als erster Papst in der Geschichte empfing er Orthodoxe, Protestanten, Anglikaner. Vorrangig war für ihn die Suche nach Gemeinsamkeiten, beim Aufrechnen alter Schuld wollte er sich nicht aufhalten. Johannes: "Wir wollen keine Gerichtsverhandlung aufziehen, und wir werden nicht untersuchen, wer recht und wer unrecht hatte. Wir sagen vielmehr ganz einfach: Versammeln wir uns, und hören wir mit den Streitigkeiten auf!"
Woher nahm dieser alte Mann seinen unerhörten Mut? Woher kam seine Kraft, scheinbar Selbstverständliches in Frage zu stellen, eingefahrene Gleise zu verlassen, unsicheres Gelände zu erkunden? Er selbst hat darauf eine fast zu schlicht klingende Antwort gegeben - mit einem Jesaja-Zitat -, aber es ist die einzig wahre: "Wer glaubt, zittert nicht." Die gute alte Sitte und die Tradition, das waren auch für Papst Johannes kostbare Schätze. Allerdings wollte er sie nicht vergraben, sondern für die Gegenwart fruchtbar machen.
Verbannung als Lernprozess
Eine Frucht der harten Schule, durch die Roncalli in seinem überhaupt nicht geradlinigen Leben gegangen war? Bleibende Spuren hinterließ schon seine erste Stelle. Gleich nach der Priesterweihe wurde Angelo Roncalli Sekretär des sozial überaus engagierten Bischofs Radini-Tedeschi von Bergamo. Dort war damals, kurz nach der Jahrhundertwende, das Zentrum des sozialen Katholizismus in Italien. Als die Hüttenarbeiter im nahegelegenen Ranica für menschenwürdige Löhne streikten, organisierte Roncalli Volksküchen und finanzielle Unterstützung - gegen das wütende Trommelfeuer der rechten Presse. Der Streik hatte Erfolg, eine Gewerkschaft wurde gegründet; doch aufgeschreckte Bürger schwärzten den Bischof und seinen Sekretär in Rom an.
Dort bekam Roncalli in der Folgezeit noch mehr Schwierigkeiten. Nach dem Tod des Bischofs durfte er zwar das Päpstliche Missionswerk im internationalen Maßstab modernisieren und ein paar Monate an der Lateran-Universität Kirchengeschichte lehren. Aber mit seiner aufgeschlossenen Haltung fiel er schon wieder unangenehm auf, unter anderem äußerte er sich zu tolerant über Mischehen. Viele Jahre später machte er sich als Papst den Spaß, im Heiligen Offizium nach seiner Personalakte zu stöbern. Und tatsächlich, dort fand er noch 1958 den Vermerk: "Angelo Roncalli, des Modernismus verdächtig.
Lediglich fünfzehn Vorlesungen durfte er in Rom halten, dann schob man Roncalli nach Bulgarien und zehn Jahre später nach Istanbul ab. Dort sollte er sich um die von Rom bisher eher stiefmütterlich behandelte katholische Minderheit kümmern, die als vermeintlicher Vorposten des Westens meist misstrauisch beargwöhnt wurde. Dazu die Kriegsfolgen, die wirtschaftliche Not und die brodelnden sozialen Spannungen!
Roncalli bemühte sich zu vermitteln und schlug eine stärkere Verwurzelung der Kirche in den jeweiligen Ländern vor, also eine Zurückdrängung des westlichen Elements. Aus Rom kam freilich so gut wie kein Echo. "Das ist eine Form, mich kaltzustellen und zu demütigen, die ich nicht erwartet habe und die mich sehr schmerzt", vertraute er seinem Tagebuch an.
Roncalli war in dieser Verbannung 63 Jahre alt geworden, als ihm die nachtragenden Römer plötzlich verziehen; vielleicht erinnerten sie sich auch nur an einen lange Vergessenen. 1944 wurde er Nuntius in Paris; das war damals die wichtigste Drehscheibe vatikanischer Diplomatie. Die zum Teil beschämend guten Kontakte zu den deutschen Besatzern lasteten jetzt, nach der Befreiung, schwer auf der französischen Kirche. Der von Kollaborationsvorwürfen unbelastete Roncalli konnte mit viel Geschick eine neue Vertrauensbasis schaffen. Als Patriarch von Venedig schließlich wuchs er zu jener überzeugenden Vaterfigur, die wenig später die Herzen der Welt gewinnen sollte. Er plauderte bei der Kanalfahrt im vaporetto mit den Leuten, lud die Teilnehmer der Filmfestspiele zu sich ein und besuchte als erster Papst die Biennale.
Als Pius XII. im Oktober 1958 gestorben war, ging der Kompromisskandidat Roncalli durchaus selbstsicher ins Konklave - auch wenn das in unser Bild vom schlichten Seelsorgebischof nicht ganz passen mag. Er war einer der wenigen, auf die sich die verschiedenen Fraktionen der Kardinäle würden einigen können - und für einen Italiener kannte er sich im Ausland recht gut aus. Vor allem den Franzosen war nicht entgangen, was für neuartige Ideen der alte Mann hatte - Ideen, mit denen er der internationalen Christenheit neuen Schwung und neue Hoffnung geben sollte.
aus: Kirche In 10/2008 S. 46-47
Buchtipp:
Christian Feldmann
Auf den neuesten Forschungen basiert die Bildbiographie des Roncalli-Papstes, die unser Autor bei Herder veröffentlicht hat: Johannes XXIII, - Der gütige Prophet“, 144 Seiten, mit vielenFotos, 14,90 Euro.
Zuletzt geändert am 21.10.2008