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Veröffentlicht am 15­.06.2009

Karl Rahner (1972)

Eine entklerikalisierte Kirche

... Man sollte auch in den Dingen, die dogmatisch und verfassungsrechtlich gar nicht unveränderlich sind, daran denken, dass der schlichte Wunsch einer Majorität in der Kirche schon im voraus zur sachlichen Begründung einer Entscheidung durchaus legitim ein Gewicht hat. Man sollte sich hüten, sich für eine Entscheidung, die man, bloß durch das Schwergewicht des Gewohnten bewegt, zu treffen beabsichtigt, von gescheiten Theologen oder Kirchenfunktionären ideologische Begründungen liefern zu lassen, die sehr tiefsinnig scheinen mögen, aber im Grunde doch nur die überzeugen, die von anderswoher schon längst von dem überzeugt sind, was da hinterdrein theologisch oder juristisch subtil begründet wird. Die Gefahr, sich selbst etwas durch solche nachträglichen ideologischen Substrukturen vorzumachen, ist in der Kirche sehr groß und ein typisches Teilphänomen an einem falschen Klerikalismus. Es schadet dem Amt und den Amtsträgern nichts, wenn man Unsicherheiten, Zweifel, Notwendigkeit von Experimenten und weiteren Überlegungen, deren Ausgang wirklich noch ungewiss ist, ehrlich zugibt und nicht so tut, als habe man einen unmittelbaren heißen Draht zum Himmel für alle und jede Frage, die in der Kirche eine Antwort verlangt. Die formale Autorität eines Amtes enthebt auch dann, wenn der Amtsträger an sich legitim von ihr Gebrauch macht, ihn nicht der Pflicht, von der Sache her und in wirklich heutigen Verstehenshorizonten um die echte Zustimmung derer effizient zu werben, die von einer solchen Entscheidung betroffen werden. Mir will scheinen, dass besonders auch römische Erlasse dieses Prinzip nicht genügend verstehen und darum in solchen Erlassen die formale Autorität Roms übergebührlich strapaziert wird. Vor allem darf man bei moraltheologischen Lehrentscheidungen nicht einerseits sagen, sie seien naturrechtIichen Inhaltes und darum doch grundsätzlich jedermann zugänglich, und sich dann anderseits doch wieder auf die formale Lehrautorität mehr oder weniger allein berufen, ohne einen genügenden und zeitgemäßen Versuch zu machen, die innere Begründung von der Natur der Sache her überzeugend und lebendig vorzutragen. Solche und ähnliche nähere oder entferntere Konsequenzen aus einer richtig verstandenen Entklerikalisierung des kirchlichen Amtes gäbe es noch viele andere. Aber es mag für den Augenblick damit genug sein.

Dienend besorgte Kirche
... Gerade und vor allem die Amtsträger und die Kleriker überhaupt leiden unter einer ekklesiologischen Introvertiertheit. Sie denken an die Kirche und nicht an die Menschen, sie wollen die Kirche, nicht die Menschen frei sehen. So kam es z.B. dazu, dass wir in der Zeit des Nationalsozialismus doch erheblich mehr an uns selbst, an den Bestand der Kirche und ihrer Institutionen gedacht haben als an das Schicksal der Juden.

aus: Karl Rahner – Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance (1972)

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Zuletzt geändert am 15­.06.2009