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Veröffentlicht am 28­.01.2011

28.1.2011 - Süddeutsche Zeitung

Ratzinger zweifelte an Zölibat

"Memorandum zur Zölibatsdiskussion" vom 9. Februar 1970
unterzeichnet von Ludwig Berg, Alfons Deissler, Richard Egenter, Walter Kasper, Karl Lehmann, Karl Rahner, Joseph Ratzinger, Rudolf Schnackenburg und Otto Semmelroth
aus: "Pipeline" Mitteilungsblatt des Aktionskreises Regensburg (AKR) 2/2010 S.42-53
> PDF 1,4 MB

Bevor er Papst wurde, bezweifelte der Theologe den Zölibat

Den Inhalt darf man gut und gerne als Sensation bezeichnen: 1970 stellten neun Bischöfe in einem Memorandum den Pflichtzölibat in Frage. Einer der Unterzeichner war Joseph Ratzinger. Der ist heute Papst.

Unterzeichnet ist das Memorandum von neun Theologen. Sie verfassten es am 9. Februar 1970 angesichts einer „notvollen Situation der Kirche“ und sandten es „in aller Ehrfurcht“ den deutschen Bischöfen. Den Inhalt darf man heute gut und gerne als Sensation bezeichnen. Sie fordern die Bischöfe eindringlich auf, den Zölibat auf den Prüfstand zu stellen: „Unsere Überlegungen betreffen die Notwendigkeit einer eindringlichen Überprüfung und differenzierten Betrachtung des Zölibatsgesetzes der lateinischen Kirche für Deutschland und die Weltkirche im Ganzen.“ Zu den Urhebern des Appells zählen renommierte Theologen wie Karl Rahner und Otto Semmelroth, aber auch aufstrebende wie Karl Lehmann, Walter Kasper – und Joseph Ratzinger. Lehmann, Kasper und Ratzinger machten Karriere. Der Zölibat aber kam nie auf den Prüfstand.

Die Verfasser des Schreibens agierten als Konsultoren der Bischofskonferenz, von der sie in eine Kommission für Fragen der Glaubens- und Sittenlehre berufen waren. Sie betonen darin mehrmals, sie wollten mit ihrer Petition keine Entscheidung präjudizieren, das verpflichtend ehelose Priestertum abzuschaffen. Doch allein die Tatsache, dass sie sich zu einer ausführlichen schriftlichen Intervention bemüßigt fühlten, zeigt deutlich, dass sie am Sinn des Zwangszölibates zweifelten. Das bislang öffentlich nicht zugängliche Schreiben soll damals ein Mitarbeiter Rahners einem vertrauten Geistlichen übermittelt haben, der dem kleruskritischen Aktionskreis Regensburg (AKR) angehörte. Es wurde diskret archiviert. In der neuesten Ausgabe seiner Vereinszeitschrift Pipeline aber hat es der AKR nun abgedruckt, angeblich vollständig im Wortlaut. Nach 41 Jahren. Titel: „Aus dem Archiv. Den Unterfertigten zur Erinnerung.“

„Alle“ Verfasser des Memorandums seien „davon überzeugt, dass eine Überprüfung (des Zwangszölibates, Anm. d. Red.) auf hoher und höchster kirchlicher Ebene angebracht, ja notwendig ist“, heißt es. Unbeschadet des Ausgangs der Diskussion werde das ehelose Priestertum als echte und reale Möglichkeit bestehen bleiben. „Wer aber von vornherein eine solche Klärung für überflüssig hält, scheint uns wenig Glauben an die Kraft dieser Empfehlung des Evangeliums und an die Gnade Gottes zu haben, von der er dann an anderer Stelle wieder behauptet, sie – also nicht das bloße ,Gesetz‘ – wirke diese Gnadengabe Christi.“

Die Verfasser thematisierten schon 1970, was Kleriker – auch der Papst selbst – heute als „Zeitgeist“ verteufeln. Eine Überprüfung des Zwangszölibates hielten sie für statthaft, weil es „theologisch einfach nicht richtig“ sei, „dass man in neuen geschichtlichen und gesellschaftlichen Situationen etwas nicht überprüfen“ könne. „Das Gegenteil zu behaupten, wird durch kein ernsthaftes theologisches Argument gestützt.“ So viel zur unmissverständlichen Wortwahl der Absender. Im selben Atemzug verweisen sie dann auf die Ostkirche, wo Priester verheiratet sein dürfen.

An mehreren Stellen beziehen sie sich auf die Bibel. Auf den Galater-Brief zum Beispiel. In dieser Passage beschwören sie die Bischöfe, auf Papst Paul VI. einzuwirken. Die Oberhirten seien „mindestens anzuhörende Ratgeber des Papstes (auch wo der Papst von seiner Primatialgewalt Gebrauch macht), selbst wenn ein solcher Rat ungern gehört würde“. Die Bischöfe werden zu einem selbstbewussten Auftreten gegenüber dem Pontifex ermuntert: „Wenn schon ein einfacher Untergebener Recht und Pflicht hat, sich zu fragen, ob er den ihn Übergeordneten nicht in wichtigen Dingen ungefragt Bedenken und Warnungen vortragen könne und müsse, um wie viel mehr gilt dies auch für die Bischöfe in der katholischen Kirche, auch gegenüber dem Papst?“ In den Ausführungen der neun Theologen ist das Selbstbewusstsein herauszulesen, das sich nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil auf den unteren Stufen der geistlichen Hierarchie entwickelte. Heute, wo Laien nach den Missbrauchsfällen in der Kirche und angesichts des Priestermangels die Zölibatsfrage wieder heiß diskutieren, sind derart kritische Äußerungen von geweihten Theologen kaum denkbar. Sie müssten mit irdischer Verdammnis rechnen – mit Versetzung oder mit Entzug der Lehrerlaubnis.

Der Priestermangel beschäftigte die Verfasser schon 1970: „Gerade die jungen Priester (. . .) fragen sich angesichts dieses akuter werdenden Priestermangels, wie diese Lebensprobleme der Kirche und ihres eigenen Amtes in einigen Jahren noch gemeistert werden können. Für sie genügt der ideale Blick nach rückwärts nicht.“ Die Kirche brauche missionarische Kräfte zur Offensive. Die bisherige Zölibatsgesetzgebung könne jedenfalls „nicht zum absoluten Fixpunkt der Überlegungen gemacht werden“. Ratzinger und seine Mitautoren verweisen darauf, dass nicht einmal der Papst die Weihe älterer verheirateter Männer, sogenannter viri probati, a priori als indiskutabel zurückweise.

Sorgen machten sich die Verfasser auch um die Qualität des priesterlichen Nachwuchses. Wer seinem Bischof versichere, er habe mit dem Zölibat keine Schwierigkeiten, habe seine Eignung noch längst nicht bewiesen. Vielmehr hätten sie, die lehrenden Theologen, „sehr oft den Eindruck, dass die jetzige Regelung bei uns in einem nicht unerheblichen Ausmaß nicht bloß zu einer Schrumpfung der Zahl der Priestertamtskandidaten, sondern auch zu einer Senkung der Begabung“ der noch zur Verfügung stehenden Priester führe. Das Problem sei „von der Realisierbarkeit des ehelosen Lebens des heutigen jungen Priesters zu bedenken“. Hier wird unter anderem auf die zunehmende Vereinsamung, den Verlust echter Anerkennung inmitten der Gemeinden und die „psychische Labilität vieler junger Menschen in der heutigen sexuell überreizten Gesellschaft“ verwiesen.

Die Konsultoren der Bischöfe, die zwischen den Zeilen den Papst selbst kritisieren, vermissten überzeugende Argumente der Zölibatsbefürworter. Gleichzeitig warnten sie vor einem Entgleiten der Diskussion. Wenn die Frage nicht auf höchster Ebene behandelt werde, „dann sicher auf den niedrigeren Stufen (ganz abgesehen von den Massenmedien)“. Sie warnten vor „öffentlichen Abstimmungen“, die der Autorität der Bischöfe schadeten, vor „kollektiv sich äußerndem Ungehorsam“ und vor „Massenaustritten von Priestern“ aus ihren Berufen. An einer Überprüfung des Zölibatsgesetzes, das ja kein Dogma ist, führte nach Ansicht von Ratzinger und seinen Kollegen kein Weg vorbei. „In einem anderen Falle würde der Episkopat den Eindruck erwecken, er glaube gar nicht an die Kraft der evangelischen Empfehlung des ehelosen Lebens ,um des Himmelreiches willen‘, sondern nur an die Macht einer formalen Autorität.“ Wenn genügend Jungpriester nicht zu gewinnen seien, „dann hat die Kirche einfach die Pflicht, eine gewisse Modifizierung vorzunehmen“.

Ähnlich deutliche Worte sind weder von Joseph Ratzinger, der damals 42 Jahre alt war und in Regensburg lehrte, noch von Karl Lehmann und Walter Kasper überliefert. Lehmann wurde Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz, Kasper Kurienkardinal und Ratzinger Papst. Über den Zölibat reden derzeit CDU-Politiker.

RUDOLF NEUMAIER

„Das Zölibatsgesetz kann nicht zum absoluten Fixpunkt der Überlegungen gemacht werden“

Die Theologen warnten vor kollektivem Ungehorsam und Massenaustritten von Priestern
http://www.sueddeutsche.de/politik/debatte-um-zoelibat-in-der-katholischen-kirche-ratzingers-brandbrief-1.1052132

Zuletzt geändert am 28­.01.2011